Pisa falsch gedeutet
Ein Plädoyer in "Nature" gegen Testhysterien
In der jüngsten Ausgabe des Magazins "Nature" ( 1. Mai 2008) behandeln die amerikanischen Politologen Hal Salzman und Lindsay Lowell eine auch hierzulande bekannte Erscheinung: Die OECD führt einen Bildungstest mit Jugendlichen durch, das eigene Land schneidet nicht gut ab, und es kommt Zukunftsangst auf. Warum? Weil man einen Zusammenhang zwischen der zukünftigen ökonomischen Position einer Volkswirtschaft und den mathematischen oder naturwissenschaftlichen Fähigkeiten seiner Fünfzehnjährigen vermutet. Demnächst, so die Autoren, müssten also die Vereinigten Staaten nicht nur die ernsthafte Konkurrenz Japans oder Südkoreas auf den Weltmärkten fürchten, sondern auch die von Finnland, Singapur und Neuseeland?
Setzt man anstelle dieser Länder auf der einen Seite Deutschland und auf der anderen neben Finnland auch noch die Niederlande, Kanada oder Australien ein, so hat man die entsprechende Formel des hiesigen "Pisa-Schocks". Vor allem die Gutachten des sogenannten "Aktionsrats Bildung", eines von der bayerischen Wirtschaft finanzierten Gremiums, stellen gerne einen Zusammenhang zwischen Schulbildung, Innovationskraft und Wirtschaftswachstum her und ziehen aus der Tatsache weltweiter Wirtschaftskonkurrenz direkte Konsequenzen sogar für die frühkindliche Erziehung.
Hal Salzman vom Washingtoner "Urban Institute" und Lindsay Lowell von der Georgetown University geben solchen Folgerungen gegenüber zu bedenken, dass als Maßzahl für das ökonomische Potential einer Nation nicht die Durchschnittsleistungen ihrer Schüler bedeutsam sind. Man müsse vielmehr zunächst den Umfang der Spitzenleistungen vergleichen. Fragt man dergestalt nach den Ländern mit den nicht prozentual, sondern absolut meisten sehr gut abschneidenden Schülern in jenen mathematischen und naturwissenschaftlichen Tests, dann belegen die ersten Plätze: Vereinigte Staaten, Japan, England, Deutschland, dann erst Kanada und Australien.
Allerdings entlassen sowohl die Vereinigten Staaten wie auch Deutschland ebenfalls eine riesige Anzahl von Schülern mit dramatisch schlechten Kenntnissen und Fähigkeiten aus ihren Schulsystemen. Auch darüber täuschen Durchschnittsziffern hinweg: Das Problem liegt am unteren Rand der Leistungsverteilung, nicht beim Ranglistenplatz. Und gegenüber diesem Anteil an Bildungsarmen - darunter auch die Bildungsunwilligen, die sich den Schulen verweigern - ist die Rede, man müsse sie besser auf die Globalisierung vorbereiten, einfach nur sachfremdes Gerede. Hier geht es um Defizite an völlig elementaren Fähigkeiten, deren Mangel auch in einer Welt ohne Freihandel dramatisch wäre.
Außerdem sei es, so Salzman und Lowell weiter, in vielerlei Hinsicht unsinnig, Länder mit einer Bevölkerung von dreihundert Millionen Menschen mit solchen wie Finnland oder Singapur zu vergleichen. Das ist ein Argument, das nicht nur für die Projektion zukünftiger Wirtschaftsleistungen gilt. Es betrifft auch den Schulvergleich, denn selbstverständlich ist es schon rein statistisch sehr wahrscheinlich, dass eine verständige Schulpolitik in kleinen Ländern viel bessere Ergebnisse zeitigt als in großen. Eigentlich müsste man darum nicht die Vereinigten Staaten mit Neuseeland und Deutschland mit Finnland vergleichen, sondern Colorado und Finnland oder Oberbayern und Neuseeland.
Entsprechend sei es, so die Washingtoner Forscher, viel wichtiger für ein Bildungssystem, den Blick nach innen als nach außen zu richten. Nicht die gut rechnenden Tschechen oder Finnen, sondern die gut rechnenden Schüler aus Minnesota, Baden-Württemberg oder Sachsen seien das Maß nationaler Bildungspolitik. Das gilt nicht nur, weil Bildungssysteme nicht revolutioniert und komplett durch ein auswärtiges Modell ausgetauscht werden können. Es hätte auch statistisch keinen Sinn. Neunzig Prozent der Varianz von Testergebnissen, so teilte in diesem Sinne auch der Pisa-Bericht 2006 mit, finden sich innerhalb der Nationen, nicht zwischen ihnen. Die schlechten Schulen zu identifizieren und zu verbessern sei eine nationale Aufgabe, schreiben Salzman und Lowell, und oft fänden sich Anhaltspunkte für die Verbesserung in Schulen, die nur ein paar Kilometer oder Städte von den Problemen entfernt lägen. Es mag im Kontext deutscher Debatten helfen, dass so etwas einmal von zwei amerikanischen Forschern aufgeschrieben wurde, die als Experten für Arbeitsmarktpolitik und Migration nicht im Verdacht stehen, dem Philologenverband oder einer konservativen Verschwörung gegen die Unterschicht anzugehören. " Jürgen Kaube
Text: F.A.Z., 06.05.2008, Nr. 105 / Seite 39
// Nicht nur die naturwissenschaftliche und mathematische Bildung zählt.
Es kommt auch auf die Unternehmer an, die etwas unternehmen, auf die Unternehmenskultur eines Landes, auch auf die Freiheitsgrade in der schulischen und universitären Ausbildung für besonders begabte Studenten. Das Beispiel des Physikers Bechtolsheim mag das verdeutlichen, der nach dem zweiten Semester von Deutschland in die USA wechselte, ein Mitgründer von SUN wurde und seitdem immer wieder innovative Firmen gründete, zuletzt von CISCO aufgekauft, wo Bechtolsheim weiter für das Internet arbeitet. Während Deutschland seine Computerindustrie fast ganz verloren hat und auch eine deutsche Erfindung wie der MP3-Spieler amerikanische Unternehmen zur Vermarktung brauchte, geht die Erfolgsgeschichte des Silicon Valley weiter.
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