Für Afghanistans Frauen hat sich in den letzten Jahren wenig verändert
Häusliche Gewalt, Zwangsehen und der Verkauf im Kindesalter sind noch immer verbreitet
Aisha ist als Vierjährige an einen Nachbarn verkauft und von seiner Familie jahrelang ausgebeutet und misshandelt worden. Ihre Geschichte ist kein Einzelfall. Gewalt, Zwangsehen und der Verkauf im Kindesalter sind in Afghanistan verbreitet.
NZZ, Andrea Spalinger, Kabul
Aisha war drei Jahre alt, als die Taliban die südafghanische Provinz Helmand eroberten und ihren Vater töteten. Da eine Frau mit Kindern alleine damals kaum überleben konnte, sah sich die Mutter gezwungen, bald wieder zu heiraten. Der neue Vater sah in der Tochter aus erster Ehe nur eine Last und verkaufte sie für ein paar hundert Dollar an einen entfernten Nachbarn. Das vierjährige Mädchen wurde mit dem Sohn der Familie verheiratet und wie eine Sklavin behandelt. «Ich musste sehr hart arbeiten und bekam kaum etwas zu essen», erzählt die junge Frau. «Wenn der Schwiegervater oder die älteren Brüder meines Mannes unzufrieden mit mir waren oder schlechte Laune hatten, schlugen sie mich fast zu Tode. Manchmal haben sie mich zur Strafe auch mit heissem Wasser übergossen oder mit Drahtseilen ausgepeitscht. Immer wieder haben sie mir angedroht, mich umzubringen.»
Spuren der Tortur
Die heute 17-jährige Aisha zieht das grosse weisse Tuch, in das sie gehüllt ist, vom Kopf und zeigt Stellen, wo ihr dichtes schwarzes Haar nicht mehr wächst, weil die Kopfhaut so stark verletzt ist. Auch ihr Rücken und ihre Hände weisen Spuren der Tortur auf, die sie acht Jahre lang über sich ergehen lassen musste. Das Schlimmste scheinen indes die seelischen Wunden zu sein. Ruhig und gefasst berichtet die junge Paschtunin über das Martyrium im Hause ihres Ehemannes. Als sie von der Flucht aus dem Dorf erzählt, leuchten ihre Augen sogar kurz schelmisch auf. Dann kehren ihre Gedanken zur Mutter zurück, und Aisha kann die Tränen nicht mehr zurückhalten.
Das Allerschlimmste sei gewesen, dass die Schwiegereltern ihr nicht erlaubt hätten, das Haus zu verlassen, nicht einmal, um ihre Mutter zu besuchen, erzählt sie mit erstickter Stimme. Ihre Mutter habe sie nicht verkaufen wollen. Doch sie sei machtlos gewesen gegenüber ihrem zweiten Mann und habe das Haus selbst nicht verlassen dürfen. Einmal habe die Mutter sie besucht und vergeblich versucht, ihr zur Flucht zu verhelfen. Danach sah Aisha sie nie wieder.
Aishas Schicksal ist kein Einzelfall. Tausende von Frauen in Afghanistan haben ebensolche Geschichten zu erzählen. Geschichten von häuslicher Gewalt, von Vergewaltigungen, von Zwangsheiraten und vom Verkauf im Kindesalter. Hunderte von jungen Frauen bringen sich jedes Jahr um, meistens durch Selbstverbrennung, weil sie keinen anderen Ausweg aus der Hölle sehen. Aisha ist eine von wenigen, die ihren Peinigern entkommen sind. Als im Haus eine Uhr verloren gegangen sei, habe man sie des Diebstahls bezichtigt und sie fast zu Tode geprügelt, berichtet sie. In dieser Nacht habe sie Gott angefleht, sie vom Leben zu erlösen. Er habe sie nicht erhört, doch am nächsten Morgen habe das Tor zum Hof offen gestanden, und sie habe dies als Zeichen Gottes interpretiert, dass sie sich selbst helfen müsse.
Die damals Zwölfjährige floh und rannte einem Dörfler in die Arme, der Mitleid mit ihr hatte. Auch der lokale Polizeichef war über das Elend des Mädchens erschüttert, das aus Nase, Mund und Ohren blutete und zwei gebrochene Arme hatte. So wurde sie nicht nach Hause zurückgebracht oder ins Gefängnis geworfen – wie es in Afghanistan in solchen Fällen üblich ist, weil die Ehre der Familie mehr zählt als das Leben einer Frau –, sondern landete in einem Spital. Von dort aus brachte sie ein Mitarbeiter der staatlichen Menschenrechtskommission nach Kabul, wo sie erst in einem Waisenhaus und später in einem Frauenhaus Unterschlupf fand.
«Die Situation der Frauen hat sich seit dem Sturz der Taliban 2001 verbessert», sagt Anarkali Honaryar, die für die Menschenrechtskommission arbeitet und eine der bekanntesten Frauenrechts-Aktivistinnen im Land ist. «Das Bewusstsein der Frauen hat sich geändert. Früher haben sie alles passiv ertragen, heute rufen sie um Hilfe, wenn sie die Möglichkeit dazu haben.» Das sei eindeutig ein Fortschritt, doch die Lage der meisten Frauen in Afghanistan sei immer noch dramatisch, erklärt die 25-Jährige. Präsident Karzai hätte in den letzten acht Jahren mehr tun müssen, um rückständige Sitten zu durchbrechen. Zwangsehen und Kinderheiraten seien laut Verfassung verboten, doch vielerorts sprächen auch heute noch Stammesälteste und nicht staatliche Gerichte Recht, kritisiert Honaryar.
Tatsächlich entscheidet in weiten Teilen des Landes im Falle eines Streits zwischen zwei Familien weiterhin die Jirga, der Ältestenrat. Im Falle eines Mordes wird manchmal entschieden, dass die Tat mit einem weiteren Mord gesühnt oder durch ein Blutgeld vergolten werden soll. In den meisten Fällen wird jedoch ein Mädchen aus der Familie des Täters der Familie des Opfers als «Wiedergutmachung» übergeben. Dies war ursprünglich als Mittel zur Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung im Dorf durch eheliche Verbindungen gedacht. In der Praxis sieht es aber ganz anders aus. Die Fehden sind damit meist nicht beigelegt, und die betroffenen Frauen müssen dafür büssen. Diese Praxis widerspreche nicht nur der afghanischen Verfassung, die Mann und Frau gleichstelle, und der Uno-Menschenrechtscharta, erklärt Honaryar. Die unmenschliche Praxis sei auch nicht durch den Islam zu rechtfertigen, denn gemäss dem Koran dürfe niemand für die Verbrechen eines anderen bestraft werden.
Präsident Karzai hat westlichen Geldgebern und afghanischen Frauenorganisationen versprochen, die Situation der Frauen im Land zu verbessern. Unter anderem hat er ein Ministerium für Frauenangelegenheiten geschaffen, dem die einzige Ministerin des Landes vorsteht. Ferner setzte er eine Kommission ein, die Gesetze zur Stärkung der Frauen ausarbeiten soll. Viel herausgekommen ist dabei nicht. Im Gegenteil, wenn es hart auf hart kam, war Karzai in den letzten Jahren die Unterstützung konservativer Stammesältester und Mullahs wichtiger als das Wohl der Frauen. So hat er vor den Präsidentenwahlen im August mit Blick auf die Stimmen schiitischer Mullahs ein Familiengesetz für die schiitische Minderheit im Land verabschiedet, durch das sich die Position der Frau deutlich verschlechtert.
Shinkai Karokhail ist Sunnitin. Dennoch hatte sie im Parlament erbittert gegen das schiitische Familiengesetz gekämpft, das ihrer Ansicht nach einen Schlag ins Gesicht aller afghanischen Frauen bedeutet. Dank einer Quotenregelung sitzen heute 68 Frauen im 249-köpfigen Parlament. «Doch die meisten weiblichen Abgeordneten sind schwach. Kaum eine meldet sich je zu Wort und vertritt die Interessen der Frauen im Land», kritisiert Karokhail. In der Tat sind die meisten afghanischen Parlamentarierinnen Ehefrauen und Töchter von einflussreichen Lokalfürsten und fungieren als deren Marionetten. Karokhail hingegen ist alleinerziehende Mutter von vier Kindern und hat sich den Kampf für Frauenrechte auf die Fahne geschrieben. Die Mittvierzigerin aus der Kabuler Oberschicht hat die Härten des afghanischen Ehelebens am eigenen Leib erfahren und wehrt sich wohl gerade deshalb so verbissen gegen frauenfeindliche Gesetze.
Katastrophale Rechtslage
Karokhails Mann hat vor ein paar Jahren gegen ihren Willen eine zweite Frau geheiratet (afghanische Männer können laut Gesetz bis zu vier Frauen ehelichen). Deshalb lebt sie heute von ihm getrennt, doch scheiden lassen will sie sich auf keinen Fall. «Als geschiedene Frau wäre ich in dieser Gesellschaft eine Ausgestossene. Zudem verlieren Frauen bei der Scheidung das Sorgerecht für die Kinder, und sie bekommen keinerlei finanzielle Unterstützung», erklärt sie. Weil die rechtliche Lage so katastrophal sei, liessen sich viele Frauen jahrelang von ihren Männern misshandeln, ohne aufzumucken.
Ihr gehe es vergleichsweise gut, meint Karokhail. Sie könne in Kabul ein relativ unabhängiges Leben führen. Die meisten Frauen hätten überhaupt keine Chance, aus einer schlechten Ehe auszubrechen. Wenn sie nach Parlamentsdebatten nach Hause komme, sei ihr oft zum Heulen zumute, gesteht die engagierte Paschtunin. Nach vier Jahren im Parlament sei sie mehr als enttäuscht über die Bilanz. Dreissig Jahre Krieg hätten Afghanistan zu einer durch und durch machistischen Gesellschaft werden lassen, erklärt die Abgeordnete. Die Mujahedin glaubten, ein Anrecht auf das Land zu haben, weil sie es in den achtziger Jahren von den sowjetischen Besetzern befreit hätten. Obwohl sie nach dem Abzug der Sowjettruppen Afghanistan selbst zugrunde gerichtet hätten, sähen sie sich immer noch als die einzigen legitimen Machthaber. Frauen hätten in ihrem konservativen Weltbild nichts zu melden.
Armut und Unwissen
«Wenn ich es wage, im Parlament über Frauenrechte zu reden, werde ich niedergeschrien», berichtet Karokhail empört. Frauenthemen würden von den männlichen Kollegen immer gleich in einen religiösen Kontext gestellt und seien damit tabu. «Stammesführer und Warlords missbrauchen die Religion als Waffe gegen uns Frauen. Wenn wir für unsere Rechte kämpfen, beschimpfen sie uns als unislamisch und verwestlicht», sagt sie. «Doch im Grund geht es gar nicht um die Religion. Diese Männer sind ganz einfach erzkonservativ und wollen aus Machtgründen nichts am Verhältnis zwischen den Geschlechtern ändern.»
Mary Akrami, die nach dem Sturz der Taliban aus dem Exil in Pakistan zurückgekommen ist und sich seither für die Rechte der Frauen einsetzt, hat mit ähnlichen Widerständen zu kämpfen. Die afghanische Gesellschaft sei sehr traditionell und männerdominiert – im tadschikischen Norden ebenso wie im paschtunischen Süden, sagt die Leiterin des Afghan Women Skills Development Center (AWSDC). In ländlichen Gegenden verliessen die Frauen kaum je das Haus. Wenn man bei ihnen ansetze, komme man deshalb oft nicht sehr weit. Wenn man etwas an den gesellschaftlichen Strukturen ändern wolle, müssen man die Männer einbeziehen.
Das AWSDC versucht, mit Stammesältesten und religiösen Führern über für Frauen problematische Themen wie das Verheiraten minderjähriger Mädchen zu diskutieren und sie davon zu überzeugen, dass es im Koran keine Grundlage für solche Praktiken gibt. «Klar ist es nicht einfach», gibt Akrami zu. «Wir haben erst wenige Mullahs überzeugen können. Doch gegen ihren Willen werden wir längerfristig überhaupt nichts erreichen. Unser grösster Feind sind nicht die Männer, sondern Armut und Unwissen», sagt die junge Frau. Damit liegt sie wohl richtig. Afghanistan ist immer noch eines der ärmsten Länder der Welt. Jedes dritte Kind hier ist unterernährt. Die Lebenserwartung liegt bei 43 Jahren. Über die Hälfte der Afghanen ist laut Schätzungen arbeitslos, mehr als 70 Prozent der Bevölkerung sind Analphabeten. «Einen ungebildeten Bauern, der täglich ums Überleben kämpft, vom Nutzen von Frauenrechten zu überzeugen, ist schwierig», erklärt Akrami. «Wir müssen erst die Männer bilden, um das Schicksal der Frauen zu verbessern.»
Zwei Arten von Gefängnissen
Doch solche Veränderungen dauern Generationen, und Mädchen wie Aisha brauchen heute und nicht morgen Hilfe. Wenn ihre Ehemänner oder Väter sie aufspüren, werden sie umgebracht, weil sie die Ehre der Familie beschmutzt haben. Um Frauen in Not zu helfen, hat Mary Akrami 2003 das erste Frauenhaus in Kabul eröffnet. Mittlerweile gibt es drei Frauenhäuser in der Hauptstadt, deren Standort aus Sicherheitsgründen streng geheim gehalten wird.
«Die Hilfe, die wir bieten, ist nur ein Tropfen auf den heissen Stein», sagt Anarkali Honaryar von der Menschenrechtskommission, welche die drei Frauenhäuser unterstützt. «Tausende von Frauen brauchten einen Unterschlupf. Wir können nur ein paar Dutzend von ihnen helfen.» So oder so sind Frauenhäuser aber keine nachhaltige Lösung in einem Land, in dem Frauen nicht gänzlich auf sich gestellt leben können. Nach einem Aufenthalt im Frauenhaus kann ein junges Mädchen nicht einfach einen Job suchen und eine Wohnung mieten. Sie hat zwei Möglichkeiten: Entweder sie geht zurück zu ihrer Familie, oder sie findet einen Mann, der sie heiratet. Selbst starke Frauen wie Anarkali, Shinkai und Mary wären nichts ohne die Unterstützung ihrer Familie oder ihres verständnisvollen Ehemanns im Hintergrund.
Die drei Frauenhäuser seien überfüllt und stellten keine langfristige Lösung dar, meint Akrami. Die Regierung müsse dringend einen Weg finden, betroffene Frauen und Mädchen wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Momentan werde vor allem versucht, die Geflohenen in beiderseitigem Einverständnis wieder zu den Familien zurückzubringen. Wenn ein Mädchen wie im Fall von Aisha aber nicht zurückwolle oder -könne, dann bleibe es jahrelang im Frauenhaus sitzen, abgeschnitten von der Aussenwelt.
«Aus Sicherheitsgründen können wir kaum je raus», stimmt Aisha mit traurigem Lächeln zu. «Ich fühle mich einsam und deprimiert.» Wahrscheinlich wird die 17-Jährige bald heiraten. Ein Mitarbeiter des Waisenhauses, in dem sie kurze Zeit wohnte, hat ihr einen Antrag gemacht. Stimmen sie die Hochzeitspläne glücklich? Was ist ihr Wunsch für die Zukunft? «Wenn ich eine Wahl hätte, würde ich nicht heiraten», sagt Aisha. «Wenn ich könnte, würde ich meine Mutter suchen und nach Kabul holen. Und ich würde studieren und mich wie Mary dafür einsetzen, dass es keine Gewalt gegen Mädchen mehr gibt und wir Frauen auf eigenen Füssen stehen können.» ' NZZ 26.9.09
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