Donnerstag, 8. Juli 2010
Die Moral von der Geschicht
Wolf Doleys
Moral ade´ Ein optimistischer Nekrolog auf eine Chimäre
Es gibt sie noch, die Diskussion um die Moral; sie schickt ihre letzten Truppen in die letzten Verbal-Gefechte, wobei sie auch als Ethik auftritt und in ganz säkularen Gefilden gar als Wertekanon.
Doch ist ihre Zeit unwiderruflich abgelaufen, nur die platonische Schminke vermag noch von weitem den ungefähren Eindruck von Lebendigkeit zu erwecken.Sie stirbt schon lange, falls sie je gelebt haben sollte, ein praktisches Leben war das jedenfalls kaum, doch mehren sich nunmehr massiv die finalen Zeichen, so daß auch das Wort vom langen Leben der Totgesagten die Moral nicht mehr retten wird.
Jüngstes und mächtiges Indiz ist der völlige Zusammenbruch des Sozialismus; er war in der Geschichte der letzte Versuch, ein - kantisch gesprochen - Regime der praktischen Vernunft zu errichten.
Nun wissen wir seit Mandeville und Hayek einerseits, Rousseau und Robespierre andererseits, daß die Vernunft sich schwertut mit der Welt, insbesondere, wenn sie sich ihr mit großen Entwürfen nähert; dafür reicht die Denk- und Planungskapazität des homo sapiens sapiens einfach nicht.
Und seit Freud und Lorenz wissen wir außerdem, daß die Vernunft, diese späte kleine, wenn auch feine Neocortex-Frucht, nicht einmal Herr im eigenen Haus des Individuums ist, geschweige denn, daß das Verhalten des einzelnen im Verkehr mit anderen zuverlässig durch sie gelenkt werden könnte.
Das aber war die Prämisse des Sozialismus: daß sich Individuen nach einem Wertekanon beliebig vernünftig verhalten und entsprechend steuern könnten, ja, daß sie ihren Einzelwillen jederzeit dem Allgemeinwohl unterordnen könnten, wie der kategorische Imperativ Kants es befahl.
Der gute Wille an der Macht, man konnte es eigentlich seit dem Tugendmenschen Robespierre und der französischen Revolution wissen, hat die jeweiligen sozia¬listischen Gesellschaften und ihre Menschen aufs schwerste materiell und kulturell geschädigt.
Dabei ist die Einsicht in die Unzulänglichkeit des guten Willens als eines idealistischen Verhaltensregulativs keineswegs neu: ausgerechnet der Moralphilosoph Adam Smith fand in seinem "Wealth of Nations" schon im 18. Jahrhundert heraus, daß gerade das Selbstinteresse des Menschen der Eckstein für das Wohl des Ganzen ist. Die berühmte "unsichtbare Hand" des Marktes und der gesellschaftlichen Austauschbeziehungen integriert die Einzelinteressen zu einem komplexen System gegenseitiger arbeitsteiliger Bedürfnisbefriedigung.
Diese Grundeinsicht gilt es zu bewahren gegen alle moralischen Einreden. Sie befindet sich in Übereinstimmung mit der biologischen Natur des Menschen, und sie ist offen für seine gesellschaftliche und kulturelle Dimension.
Wie alle Lebewesen sucht der Mensch für sich und seine Nachkommen die Optimierung der Lebenschancen; er findet sie aber nur im Austausch mit anderen Menschen, indem er sein Eigeninteresse unter Anwendung gesellschaftlicher Spielregeln verfolgt. Diese bilden sich spontan, wie etwa der Markt oder die Sprache Spontanbildungen sind, und sie entwickeln und verändern sich.
Für den Menschen heißt das, daß er sich die vorhandenen Regeln, ihre Anwendung und ihre Modi der Ergänzung und Veränderung aneignen muß. Das geschieht durch Vermittlung und Einübung in den verschiedensten Ausbildungsbereichen. Das Gelingen hat dabei mehr mit (Eigen-)Motivation und Trainingsqualität zu tun als mit gutem Willen. Jeder Personaltrainer weiß das.
Er weiß auch, daß jede Gruppe auf die Einhaltung der Spielregeln achten muß, damit Regelverletzer keinen Bonus auf Kosten anderer erhalten, die die Regeln beachten. Das gleiche gilt für Gruppen aller Art und für ihre Interaktion bis hin zum Staat, seiner Polizei und Justiz. Nirgendwo ist auf den guten Willen der Moral Verlaß, genausowenig, wie es den guten Menschen als solchen gibt; um so mehr hängt alles daran, daß die jeweiligen Regeln, von der Freundlichkeit bis zum Wahlrecht, von der geeigneten Erziehung bis zum Mietrecht, bekannt sind, meistens, daß sie eingeübt wurden und daß Regelverstöße sanktioniert werden.
Der Regelbegriff ist auch die vergessene Essenz in den sakrosankt gewordenen Wörtern Ethik (ethos), Moral (mores) und Sittlichkeit, bevor die Metaphysiker und Moralisten aller Länder und Schattierungen zu abstrakten Gefilden abhoben, aus denen die Konkreta des menschlichen Lebens nicht mehr recht zu fassen sind; in allen drei Sprachbezirken ist die Ausgangsbedeutung: wie es bei uns die Regel ist. Auch das gut von gut und böse bezeichnet etymologisch: was (zu-)paßt.
Was paßt, ermißt sich vor allem nach dem großen Regelspeicher Tradition. Das Passende brauchen wir heute, da wir aus den gröbsten historischen Windeln heraus sind, nicht mehr metaphysisch anzubinden, wie wir ja auch für das Bundeskanzleramt weder die Gunst der Götter noch das Gottesgnadentum in Anspruch nehmen. An die Stelle der Annahme eines eindeutig bestimmbaren Allgemeinwohls ist die Einsicht in die Multiperspektivität komplexer Sachverhalte getreten, und daß die Zeit alles verändert, natürlich auch Regeln und Gebräuche, ist zur Binsenweisheit geworden.
Wir können heute klar genug sehen, daß in pluralistisch verfaßten Gesellschaften naturgemäß verschiedenste Interessen miteinander ringen, ohne daß sich klar und unzweifelhaft ein Allgemeinwohl postulieren ließe, man denke nur an die Luftverschmutzung durch Autoverkehr, an die Tempolimit-Diskussion etc. Sind Regeln gefunden, schreiben wir ihnen keinen Ewigkeitswert mehr zu, mag es sich da um Verkehrsformen, Sexualverhalten, Wettbewerbsrecht oder Produktionsweisen handeln.
Der Regelbegriff eignet sich dafür in seiner Offenheit, für ihn gibt es, statt idealistischer Abgehobenheiten, nur empirisch zugängliche Regeln, die zu finden, zu entwickeln, zu verändern, aber auch zu sanktionieren sind; diese Offenheit beugt der Sklerotisierung der Gesellschaft vor. Dabei kommt man ohne Rückgriffe auf unpraktikable Vorgaben moralischer Provenienz aus, als da sind: guter Wille, gut und böse, Willensfreiheit, moralisches Bewußtsein etc. .
Ein Unternehmen etwa sieht sich eingebunden in die Regelsysteme der Betriebswirtschaft und des Marktes. Hier herrschen deskriptive Größen jenseits von Gut und Böse. Soll sich ein Unternehmen anders verhalten, müssen stets eine Reihe miteinander verbundener Einflußgrößen diskutiert werden, die meist weit über den Bereich des einzelnen Betriebs hinausreichen. Eine solche Diskussion kann durchaus hart geführt werden, sie wird aber schnell unfruchtbar, wenn moralisiert wird. Zudem lassen sich die Kunden nicht auf Diskussionen ein, sie kaufen bei Aldi das billige Produkt, das chinesische oder rumänische Arbeiter montiert haben.
Die Regeln werden praktisch durch Einführung und Training; wenn Zielvorgaben nicht erreicht werden, wie im Falle einer Straftäterrückfallquote von 38% (in der alten Bundesrepublik), dann braucht man nicht in die Tiefen der moralischen Natur des Menschen zu steigen, um etwas zu ändern, man muß, viel konkreter, das Training und die Trainingsbedingungen verbessern, in dem und unter denen Resozialisierung stattfinden soll.
In die Tiefe sollte man höchstens noch steigen, um dort die Moral sicher und gut zu betten, auf daß ihr abgehobener Charakter nicht länger in die Irre führe. Der von der Moral erlöste Mensch hat das Zeug, die Zukunft offen und optimistisch und in einem neuen Geist globaler Fairneß zu gestalten; die Entwicklung in den letzten 40 Jahren jedenfalls läßt Gutes erwarten
fast möchte man sagen: das Beste, wenn es das denn gäbe - sieht man auf den endgültigen Zusammenbruch der sozialistischen Regimes des Guten Willens.
Aus:
Wolf Doleys
Enfant perdu
Vom Wanderrebbe bis Honecker
Essays
u.a.: Auslaufmodell: die Utopie
Da war noch was:
Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit
Erziehung revisited
68er deficit spending
Gemeinsinn: woher nehmen?
edition lichtenberg 1994
ISBN 3-9803732-9-0
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