Braver Junge
“Die Plebejer proben den Aufstand” will die ARD nicht senden? Unerhört. Günter Grass ist empört. Das könne die Beziehungen zu Moskau und Ost-Berlin stören, begründete die ARD. Grass beschwert sich im Februar 1970 in einem Brief an Willy Brandt:
“Die neue Ost- und Deutschlandpolitik der sozial-liberalen Koalition bringt es mit sich, daß der Stalinismus innerhalb der DDR nicht mehr kritisch angesprochen wird … kann allerdings innerhalb der SPD den Trugschluß fördern, es könne sich demnächst eine Aussöhnung mit der SED anbahnen (siehe Bruderparteien).”
Timothy Garton Ash teilt das dem Leser seines Buches IM NAMEN EUROPAS mit (S. 310). SPD-Mitglied und Brandt-Freund Grass setzte sich in seinem “Plebejer”-Stück mit der dubiosen Rolle Bertolt Brechts im Aufstand von 1953 gegen die SED-Diktatur auseinander. Das war der ARD zuviel. Man berichtete lieber über die “Errungenschaften” der Ost-Berliner Diktatur. Und die Brandt-Scheel-Regierung verhielt sich ähnlich gegenüber der Opposition in Polen und der Tschechoslowakei. Garton Ash dazu: “Es waren die Vereinigten Staaten unter Carter, die die Wahrung der Menschenrechte unmittelbar mit der Vergabe von neuen Krediten verknüpften. Ganz eindeutig beeinflußten sie damit Giereks Toleranz gegenüber der gerade flügge werdenden demokratischen Opposition. Es waren Regierung, Kongreß, Gewerkschaften und Menschenrechtsorganisationen der Vereinigten Staaten, die den Vorgängern von Solidarnosz und schließlich Solidarnosz selbst die größte politische, moralische und vor allem finanzielle Unterstützung gewährten. … Aber im allgemeinen ist richtig, daß - wie Havel in seiner Frankfurter Rede andeutete - die Bundesrepublik hier das andere Extrem verkörperte. (Ebd., S. 421) Wir erinnern uns, Helmut Schmidt ging mit Gierek lieber segeln.-
Garton Ash zu lesen ist zweifellos interessant. Er hat gestern den Medienpreis KARLSMEDAILLE für sein EU- und Euro-Engagement bekommen, just am gleichen Tag, an dem in englischen Regionalwahlen die UNITED KINGDOM INDEPENDENCE PARTY (Ukip) sehr erfolgreich war. Garton Ash denkt als Historiker der Zeitgeschichte vor allem in politischen Zusammenhängen, Wirtschaftsgeschichte ist ihm fremd. Ihn, obwohl Engländer, leitet der Wunsch zu einem großen, einheitlichen Europa, daher seine Vorliebe für den Brüsselkratismus. Dafür bekommt er die KARLSMEDAILLE. Er unterschätzt leider die langen Traditionen der europäischen Nationen, die sich in unterschiedlichen Mentalitäten niedergeschlagen hat. Deren Konvergenz, wenn sie denn kommt, wird nur sehr langsam vonstatten gehen. Und er übersieht ebenfalls das Sprachenproblem, das Amerika und Rußland nicht haben. Es wird noch geraume Zeit dauern, bis die meisten Europäer ein kultur- und politikfähiges Englisch beherrschen werden, das mehr sprachlichen Austausch und kulturelle Nähe zuläßt. Daran läßt sich in Ruhe und Geduld arbeiten. Brüssel und der Euro säen stattdessen Zwietracht.
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