Sonntag, 8. Mai 2016

Hans Widmer plädiert für Wissenschaft


Wissenschaft und Religion
Kann Wissen Glauben ersetzen?
von Hans Widmer  NZZ 28.3.2016
Erkenntnis ist das Fundament für echte Zuversicht. Überlegungen zu Entwicklung, Entfaltung und Güte des Menschen.

Glaube beantwortet Fragen nach Ursache und Zweck von Welt, Leben, Mensch; spendet dem Individuum Sinn und Zuversicht und befreit es von Furcht vor dem Tod. Glaube beweist sich durch seine Wirkung und kann Berge versetzen. Wie sehr auch Gefühl zum Glauben drängt: Glaube ist eine Hervorbringung des Verstandes und artikuliert sich in Bekenntnissen, etwa, Gott habe alles erschaffen, Gott sei die Liebe; allein die Aussage, es gäbe noch «etwas», ist ein Bekenntnis. Welches ist die Logik, die zu allen Zeiten die grosse Mehrheit der Menschen zum Glauben an verborgene Wesen drängt, die schöpfend und lenkend über ihnen stehen?
Intentionalität
Die Entwicklung, die zu Bewusstsein und Verstand führt, setzt gleich nach der Geburt ein. Wenn die Händchen des Säuglings zufällig etwas für ihn «Interessantes» auslösen, wie ein Klingeln durch Ziehen an einer Schnur, wiederholt er den Vorgang unermüdlich und prägt diesen in sein Gehirn ein. Die kompakte Erinnerung an Intention, Aktion und Ergebnis ist der Anfang von Bewusstsein. Von neun Monaten an deutet er Menschen, wie er sich selbst erfährt: als Wesen mit Intentionen. Fortan unterstellt das Kleinkind allen Geschehnissen Intentionen, wird einmal sagen, «der Mond scheint, damit wir den Weg nach Hause finden». Dieselbe intentionale Deutung allen Geschehens findet sich im Animismus: «Unwetter herrscht, weil wir die Götter erzürnt haben.»
Die Logik, dass hinter allen Erscheinungen eine Intention stehe, führt in Religionen zu Göttern und zu Gott. Gott selber, als die Ursache von allem, hat keine Ursache und ist deshalb nicht zu begreifen, nur zu glauben.
Kausalität
Die Vorsokratiker machten den gewaltigen Sprung zum Ansinnen, die Wirklichkeit aus der Wirklichkeit zu verstehen: «Alles hat eine Ursache», und «gleiche Ursachen haben gleiche Wirkungen». Was sie nicht sagten, weil ihnen der Begriff fehlte: dass sich alle Naturerscheinungen selbst organisieren. Das war mehr als ein Paradigmawechsel: Das war der Urknall der abendländischen Denkweise. Doch erst im 13. Jahrhundert postulierte Roger Bacon eine scientia experimentalis. Die Idee dabei, aus heutiger Sicht formuliert, ist radikal: Wenn sich die Wirklichkeit selbst organisiert, so ist Erkenntnis nur durch das Studium der Wirklichkeit zu gewinnen. Die Wissenschaft ist das entsprechende Programm. Theologie ist das Studium jener intentionalen Instanzen, die man selber proklamiert hat. Die Wissenschaft entwickelte sich erst in der Neuzeit und nur in Europa. Ihre Erkenntnisse wachsen exponentiell.
Was ist Erkenntnis?
Wenn eine Weinbergschnecke auf ein Hindernis stösst, fährt sie die Fühler ein, zwei Dutzend Mal aus, woraus sich in ihrem Zentralganglion ein Bild ergibt, das zur Folgerung führt, ob das Hindernis zu überwinden oder zu umkriechen sei. Wie die Schnecke an ein Hindernis, gerät die Wissenschaft an offene Fragen, etwa, warum Gravitation die Sterne nicht längst zu einem Klumpen zusammengezogen hat. Sie entwirft Hypothesen, stellt Experimente an und erhält als Antwort, weil das Universum expandiere. Die gesamte Erkenntnis der Menschheit umfasst das, was die Befragung der Wirklichkeit bisher ergeben hat. Es gibt kein Wissen, das niemand weiss.
Könnte es nicht den Menschen verborgene Mächte geben, die hinter unerklärlichen Ereignissen und Schicksalen stecken? Unerklärlich ist vieles, aber es ist nichts damit gewonnen, ihm einen Namen zu geben. Es kann so viel Verborgenes geben, als die Phantasie hergibt: Es kann nicht zur Erklärung dienen. Das Gebäude der Erkenntnis enthält jederzeit nur das, was sich bis dahin zu erkennen gegeben hat. Alle Rede darüber hinaus ist leer.
Sind die grossen Empfindungen wie Liebe, Nächstenliebe, Gerechtigkeitssinn nicht auch unerklärlich? Nein, diese Empfindungen entspringen evolutionär den Notwendigkeiten des Lebens in Gemeinschaft, sind Wirklichkeiten mit physiologischen Spuren und sind in ihrer Funktion erklärbar – nur sind sie nicht mitteilbar, so wenig wie die Empfindung von Farben.
… Was bieten Religionen?
Religionen bieten Gläubigen weit mehr als Erklärungen zu Herkunft und Zweck von allem: nämlich Erlösung, Trost, Halt, Ethik, Gemeinschaft, Symbole, Ikonen, Rituale, Kulte, heilige Orte. Da jedoch nicht zwei einander widersprechende Wahrheiten gelten können, denken Religionen abwertend voneinander und ziehen historisch regelmässig gegeneinander in den Krieg.
Keiner Religion anzugehören, ist nur ein Verlust für den, der sich seit Kindsbeinen ihr Angebot angewöhnt hatte. Die auf Erkenntnis gegründete Existenz findet die spirituellen Komponenten reiner, tiefer, wahrhafter im eigenen Gemüt und ist a priori toleranter, da Erkenntnis offen für bisher Unerkanntes ist. Sie erleidet keinen Widerspruch zwischen Bekenntnissen und Tatsachen, zwischen Gottes Menschenliebe und realen Greueln, geglaubtem Behütet- und erfahrenem Verlassensein. Ihre Empfindungen schärft sie an grosser Literatur, Musik, Kunst, Architektur. Ihre Lehrer leiten nur zum Gang nach innen an und schreiben nicht vor, was dort zu finden sei. Alle Zusammengehörigkeit findet sie im Alltag, in ihren Beziehungen zu andern Menschen. Ihre Erkenntnis, was ein Mensch ist, führt geradewegs zum Bekenntnis, dass jeder Mensch ein Zweck in sich ist. Worauf auch das, was Jesus wirklich sprach und tat, hinausläuft. (Im Unterschied zu allem anderen Aberglauben! WD)
Zurück zur Titel-Frage: Kann Wissen Glauben ersetzen? Ja, definitiv. Muss Wissen Glauben ersetzen? Keineswegs. Jedoch wäre dem Frieden im Kleinen wie in der Welt förderlich, wenn sich Gläubige die Demut aneigneten, nicht die «einzige Wahrheit» zu besitzen, sondern nur eine «für sie gültige Wahrheit» – zu welcher Einsicht schon eine überschaubare Menge an Erkenntnis führt. Ziel des in solcher Demut Gläubigen ist dann nicht, ein «guter Jude», «guter Christ» oder «guter Muslim» zu sein, sondern ein guter Mensch – und sein Glaube ist ein guter Glaube, wenn er den Gläubigen darin stärkt.
Hans Widmer ist Autor und Physiker. Zuletzt von ihm erschienen: «Das Modell des konsequenten Humanismus – Erkenntnis als Basis für das Gelingen einer Gesellschaft» sowie «Grundzüge der deduktiven Physik – Fundament für die grossen Theorien der Physik» (Rüffer & Rub, 2013).


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Hier kommt allerdings gar nicht zur Sprache - und das ist typisch für Physiker und Philosophen - daß sich die Menschen sehr stark unterscheiden und daher die Selbstfindung ein recht schwieriger Vorgang sein kann und meistens ist, je talentierter ein Individuum ist. Daher muß LEBENSKUNST als das wichtigste Lebens- und Wissensfach gelten.- Die große Gefährlichkeit der Religion besteht darin, dem Kind und Jugendlichen eine fesselnde Ideologie überzustülpen und ihn zum Glauben durch Strafandrohung und Folter zu zwingen. Dem Abtrünnigen winkt sogar der Mord, täglich in Afghanistan, Pakistan etc. verübt. 




















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