Mittwoch, 2. November 2016

Der große Historiker Arnold J. Toynbee und der kleine Physiker Lewis Richardson










Pinker zitiert nicht nur flott Richardson, er schreibt durch die Bank so flott und hat sich dadurch bereits viel Verdienst um die Verbreitung von wissenschaftlichen Kenntnissen erworben. Er setzt die pessimistische Einschätzung Toynbees von 1950 in “War and Civilization” an den Anfang seines 5. Kapitels “Der lange Frieden”. Gekonnt. Natürlich werden Statistiken gerne manipulativ eingesetzt, aber das Prognosegeschwafel von Historikern ist auch nicht ohne. Im besten Falle verstehen sie etwas von Geschichte, meist gilt jedoch Goethes Anmerkung: “Was ihr den Geist der Zeiten heißt, das ist der Herren eig’ner Geist, in dem die Zeiten sich bespiegeln.” (Faust) 
Der Physiker Richardson macht sich wenigstens die Mühe, viele “tödliche Konflikte” durchzumustern, um eine Anzahl von 315 zwischen 1820 und 1952 in seine Probe aufzunehmen. Das ist doch was, wo Toynbee der ‘Verfügbarkeitsillusion’ (Kahneman, Twersky) verfällt. Richardson ist sich der Probleme dabei bewußt, etwa, ob der 2. Weltkrieg als einer oder als zwei Kriege zu werten sei, dessen einer 1937 mit dem japanischen Angriff auf China begann. 
Pinker befindet: “Den dauerhaftesten Bestand hatten aber Richardsons Erkenntnisse über die statistischen Gesetzmäßigkeiten von Kriegen. Drei seiner allgemeinen Aussagen sind stichhaltig, tiefgreifend und zu wenig gewürdigt.” (Pinker, Gewalt, S. 308f.)  
Eine Aussage ist eben, daß die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses mit zunehmender Zeitdauer sinkt. Die Kriegsannahme vor dem 1. WK war genau umgekehrt, wie berichtet wird. Je länger der Frieden seit 1872 in Europa zwischen den großen Ländern dauerte, desto mehr erwartete man in London, Petersburg, Berlin, Wien und Paris den Krieg, das hatten ja die Schwafelbrüder vom Schlage Toynbee hundertmal versichert. Toynbee war ja selbst im Außenministerium und ein somit Beteiligter. 
Entsprechend planten Rußland, Frankreich und England immer intensiver den Krieg (vgl. Clark, Schlafwandler). Diese falsche Erwartungshaltung kann deshalb zu den Kriegsursachen gezählt werden. Das Attentat von Sarajewo war nur ein banaler Auslöser, nicht die Ursache. 
Und 1950 erwarteten viele Beobachter einen neuen großen Krieg zwischen dem Warschauer (Zwangs-)Pakt und der NATO. Er blieb aus, es gab nur kleine Kriege. Eine Ursache für den “langen Frieden” dürfte die Analyse von WKI und WKII sein.  
Pinker geht es aber in der Hauptsache um seine These, daß die Gewaltbereitschaft in der Geschichte auf allen Ebenen abgenommen hat und die größten Opferzahlen weit zurückliegen. Er präsentiert viel Material von der Geschichte bis zur Psychologie. Ganz erfreulich also!


Die Zahlen unten übernimmt Pinker von Matthew White (Die schlimmsten Dinge, 2010), setzt sie aber in Beziehung zu den Bevölkerungszahlen des 20. Jahrhunderts (die beiden Spalten rechts). 































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