Kulturelle Evolution ist schnell, biologische Evolution ist langsam. Trotz des seit langem vergrößerten Gehirns und Kopfes, ist es bei dem alten Geburtsvorgang durch das Becken geblieben. Bei dem großen Kinderkopf völlig anachronistisch und meist sehr mühsam. Die kulturelle Evolution hätte längst den Geburtskanal zum Bauchnabel hin verlagert und damit zahlreiche Komplikationen aus der Welt geschafft. Aber die biologische Evolution verfährt langsam, Jahrtausende gelten ihr nichts.
Ähnlich verhält es sich mit der Gerechtigkeit und ihrer jüngsten Entwicklung, der ‘sozialen Gerechtigkeit’. Als atavistische Vorstellung speist sie sich aus dem Familienmodell, in dem die Kinder eine bedingungslose Grundversorgung erhalten - wenn sie Glück haben und nicht Töchter in Indien oder Pakistan sind. In modernen Marktgesellschaften sind solche Vorstellungen unsinnig, wie Hayek feststellte:
„Mehr als zehn Jahre lang habe ich mich intensiv damit befaßt, den Sinn des Begriffs ,soziale Gerechtigkeit' herauszufinden. Der Versuch ist gescheitert; oder besser gesagt, ich bin zu dem Schluß gelangt, daß für eine Gesellschaft freier Menschen dieses Wort überhaupt keinen Sinn hat. ... Der Begriff »soziale Gerechtigkeit« wird heute allgemein als Synonym für das benutzt, was bislang mit »austeilender Gerechtigkeit« bezeichnet worden ist. Dieser Begriff vermittelt vielleicht eine etwas bessere Vorstellung davon, was er bedeuten kann. Und er zeigt zugleich, warum er nicht auf die Ergebnisse einer Marktwirtschaft angewendet werden kann: Es kann keine austeilende Gerechtigkeit geben, wo niemand etwas austeilt. … Die völlige Inhaltslosigkeit des Begriffs »soziale Gerechtigkeit« zeigt sich an der Tatsache, daß es keine Übereinstimmung darüber gibt, was soziale Gerechtigkeit im Einzelfall erfordert; daß ferner keine Kriterien bekannt sind, nach denen entschieden werden könnte, wer recht hat, wenn die Leute verschiedener Ansicht sind, und daß kein im voraus ausgedachtes Verteilungssystem auf eine Gesellschaft tatsächlich angewendet werden könnte, in der die einzelnen in dem Sinne frei sind, daß sie ihr eigenes Wissen für ihre eigenen Zwecke nutzen dürfen. … Der Grund, daß die meisten Leute weiterhin fest an eine soziale Gerechtigkeit glauben, auch wenn sie entdeckt haben, daß sie nicht wissen, was sie bedeutet, liegt darin, daß sie meinen, es müsse etwas an dieser Phrase sein, wenn fast alle an sie glauben. … Das Spiel (der Marktwirtschaft, WD) wurde wahrscheinlich von Menschen begonnen, die den Schutz und die Verpflichtungen ihres Stammes hinter sich gelassen hatten, um Gewinn daraus zu ziehen, daß sie die Bedürfnisse anderer befriedigten, die sie persönlich nicht kannten. Als die frühen neolithischen Händler Bootsladungen von Steinäxten von Britannien nach Frankreich brachten, um sie gegen Bernstein oder vielleicht auch schon Krüge mit Wein zu tauschen, war ihr Ziel nicht mehr, die Bedürfnisse von ihnen bekannten Leuten zu befriedigen, sondern den größten Gewinn zu machen. Genau deshalb, weil sie nur an jemandem interessiert waren, der ihnen den höchsten Preis für ihre Güter bieten konnte, gelangten sie zu ihnen bisher völlig unbekannten Menschen, deren Lebensstandard sie viel stärker verbessern konnten als den ihrer Nachbarn, wenn sie diesen ihre Äxte, mit denen sie sicher auch etwas Nützliches hätten anfangen können, gegeben hätten. …”
F.A. v. Hayek,
Der Atavismus »sozialer Gerechtigkeit«,
in: Hayek, Die Anmaßung von Wissen, Neue Freiburger Studien, hg. von Wolfgang Kerber, S. 182-85, Mohr/Siebeck 1996)
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