Donnerstag, 30. August 2018

Nagel, Göttingen: Islam und Islamwissenschaft, ein heikles Verhältnis



"Der Islam sei eine aus jüdischen und christlichen Elementen zusammengesetzte eklektizistische Religion. Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert, als sich die Islamwissenschaft als eine eigenständige akademische Disziplin durchsetzte, ist dies die vorherrschende Meinung.
Indessen bemerkt man bei Begegnungen mit dem wirklichen, „lebendigen“ Islam rasch, dass die Kenntnis möglicher jüdischer oder christlicher Vorlagen nicht zum Verständnis dessen verhilft, was man wahrnimmt. Auch die Edition und Übersetzung arabischer Texte, die Teile des Wissens der spätantiken Geisteswelt überliefern, befruchten selten die Analyse des Erscheinungsbildes des real existierenden Islams.
Daher nötigte mich die eingehende Beschäftigung mit der islamischen Geschichtsschreibung und mit dem reichen Schrifttum zum islamischen Verständnis von Machtausübung und ihrer Verknüpfung mit im weitesten Sinne theologischen Grundsätzen, Schritt für Schritt von den überkommenen Fragen der Islamwissenschaft abzurücken. Das islamische Verständnis von Gesellschaft und Herrschaft ließ sich nicht auf jüdische, christliche oder antike Vorgaben zurückführen. Seinen Kern bildet vielmehr die einem geschichtlichen Wandel unterliegende Idee der von Allah aus in sein Schöpfungswerk hineinwirkenden „Rechtleitung“, die den Schlüssel zur politisch-religiösen Eigenart des Islams bietet. Wie in Sure 2, Vers 37, versichert wird, hat Allah diese „Rechtleitung“ schon dem aus dem Paradies vertriebenen Adam zugesagt. Dieser Glaube prägt das islamische Selbstverständnis seit der Omaijadenzeit und ist noch heute wirksam, wie ich bei meiner Mitarbeit in staatlichen Gremien, die sich mit den eingewanderten Muslimen zu befassen hatten, erkennen konnte.
Meinen Studien zu muslimischer Daseinsordnung und Machtausübung fehlte zunächst freilich, wie mir klar war, der „Unterbau“, nämlich eine Einsicht in die Wesenszüge des frühesten Islams und in dessen Ort innerhalb der spätantiken Religionsgeschichte. Die Entschlüsselung der im Koran dokumentierten inhaltlichen Entwicklung der Botschaft Mohammeds eröffnete die Möglichkeit, diesen „Unterbau“ zu beschreiben und die Grundlage für eine Geschichte des Islams zu schaffen, die die Anleihen bei außerislamischen Traditionen nicht mehr als für den Islam konstitutiv versteht, sondern als Lehngut, das einem eigenständigen Wesenskern anverwandelt wird.
Prof. Dr. Tilman Nagel wurde am 19. April 1942 in Cottbus geboren. Nach dem Reifezeugnis des Alten Gymnasiums in Oldenburg (Oldb.) studierte er vom Sommersemester 1962 bis zum Sommersemester 1967 an der Universität Bonn Orientalistik (Islamwissenschaft), Vergleichende Religionswissenschaft und Zentralasienkunde. Im Sommersemester 1967 schloss er das Studium mit der Promotion zum Dr. phil. ab. Als Verwalter einer Assistentenstelle war er bis zum Juli 1971 am Seminar für Orientalische Sprachen der Universität Bonn tätig. In das Ende dieser Tätigkeit (April 1971) fällt seine Habilitation für das Fach Islamwissenschaft. Bis 1981 arbeitete er in weiteren Funktionen an diesem Institut. Einen Ruf auf den „Chair of Arabic and Islamic Studies“ in Edinburgh lehnte er 1981 ab. Im selben Jahr wurde er auf den Göttinger Lehr-
stuhl der Arabistik berufen, den er bis zu seiner Pensionierung im Herbst 2007 innehatte.
In der Lehr- und Forschungstätigkeit von Tilman Nagel stehen die Geschichte und die Religionsgeschichte des Islams, vorwiegend des arabischen Sprachgebiets, im Vordergrund. Im Einklang mit den Aufgaben, die ihm am Seminar für Orientalische Sprachen übertragen waren, hat er dabei stets den Bezug zur
Gegenwart im Auge behalten. Zahlreiche Aufenthalte in islamischen Ländern sowie Vortragsreisen, zum Teil im Auftrag des Goethe-Instituts, sowie eine Gastdozentur in Sanaa im Frühjahr 1990 vermittelten ihm einen lebendigen Eindruck vom Denken und Fühlen der akademischen Jugend dieser Länder.
Durch seine Mitarbeit in hiesigen mit muslimischen Einwanderern befassten Gremien (1980 bis 1986 Mitarbeit an der Entwicklung eines Lehrplans für islamischen Religionsunterricht, Institut für Schule und Weiterbildung in Soest; Teilnahme an der Ersten Deutschen Islamkonferenz; Anhörungen im hessischen Landtag und im Bundestag) sind ihm zudem die Schwierigkeiten der Eingliederung muslimischer Zuwanderer in unser Gemeinwesen vertraut geworden.
Tilman Nagel ist seit 1989 ordentliches Mitglied der Göttinger Akademie der Wissenschaften. Vom Herbst 2005 bis zum Herbst 2006 hatte er ein Stipendium am Historischen Kolleg in München inne und stellte in dieser Zeit seine Studie über Mohammed fertig."
(awk nrw)















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