Freitag, 19. Juli 2019
19.7.1819 Gottfried Keller
„Kleider machen Leute“ kennt heute noch fast jeder. Das stammt aus der gleichnamigen Selwyla-Geschichte, in der der Held Wenzel Strapinski einen Radmantel und eine Pelzmütze trägt:
„An einem unfreundlichen Novembertage wanderte ein armes Schneiderlein auf der Landstraße nach Goldach, einer kleinen reichen Stadt, die nur wenige Stunden von Seldwyla entfernt ist. Der Schneider trug in seiner Tasche nichts als einen Fingerhut, welchen er, in Ermangelung irgendeiner Münze, unablässig zwischen den Fingern drehte, wenn er der Kälte wegen die Hände in die Hosen steckte, und die Finger schmerzten ihm ordentlich von diesem Drehen und Reiben. Denn er hatte wegen des Fallimentes (Pleite, WD) irgendeines Seldwyler Schneidermeisters seinen Arbeitslohn mit der Arbeit zugleich verlieren und auswandern müssen. Er hatte noch nichts gefrühstückt als einige Schneeflocken, die ihm in den Mund geflogen, und er sah noch weniger ab, wo das geringste Mittagbrot herwachsen sollte. Das Fechten fiel ihm äußerst schwer, ja schien ihm gänzlich unmöglich, weil er über seinem schwarzen Sonntagskleide, welches sein einziges war, einen weiten dunkelgrauen Radmantel trug, mit schwarzem Sammet ausgeschlagen, der seinem Träger ein edles und romantisches Aussehen verlieh, zumal dessen lange schwarze Haare und Schnurrbärtchen sorgfältig gepflegt waren und er sich blasser, aber regelmäßiger Gesichtszüge erfreute.
Solcher Habitus war ihm zum Bedürfnis geworden, ohne daß er etwas Schlimmes oder Betrügerisches dabei im Schilde führte; vielmehr war er zufrieden, wenn man ihn nur gewähren und im stillen seine Arbeit verrichten ließ; aber lieber wäre er verhungert, als daß er sich von seinem Radmantel und von seiner polnischen Pelzmütze getrennt hätte, die er ebenfalls mit großem Anstand zu tragen wußte. …“
Solche Kopftracht nach der Art des polnischen Adels verführt seine Umwelt zu dem Irrtum, der arme Schneider sei ein Adliger und behandelt ihn auch so.
Es ist - wie die anderen Seldwyler Geschichten auch - eine charmante Novelle. Köstlich auch „Die drei gerechten Kammacher“ und „Spiegel, das Kätzchen“, und, sehr lehrreich „Frau Regel Amrain und ihr Jüngster“.
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1 Kommentar:
Die bekannte schwarze, exotische Tracht der orthodoxen Juden mit Pelzmütze hat mit dem Judentum selbst nichts zu tun. Sie hat sich über die Ostjuden verbreitet, die die polnische Adelstracht kopierten, nachdem ihnen das in Anerkennung bürgerlicher (pekuniärer) Verdienste erlaubt worden sei.
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