Neues Nachdenken über die Menschenwürde
Zur Kritik von Norbert Hoerster an Horst Dreier im Artikel "Ein ,abgestuftes' Recht auf Leben?" im Feuilleton der F.A.Z. vom 29. Februar: Kollege Norbert Hoerster ist offensichtlich vom Saulus zum Paulus geworden. Ich erinnere mich, dass er früher Neugeborenen erst nach dem vierten Lebensmonat das "Recht auf Leben" zugestanden hat (Tötung des Kindes im Interesse seiner Eltern). Die grundsätzliche Problematik der Interpretation von Artikel 1 des Grundgesetzes "Die Würde des Menschen ist unantastbar" beruht auf der Definition der Begriffe Mensch und Würde. Die nun auch von Hoerster gegen Dreier ins Spiel gebrachte Definition des Menschen als "Mensch" von der Befruchtung, von der Zygote, bis zum letzten Atemzug oder bis zum letzten Hirnstrom ist eindeutig und lässt keine Ermessensspielräume zu. Würde hingegen ist kaum zu definieren. Würde beschränkt sich nicht auf die "Unantastbarkeit" des Lebens, das Tötungsverbot. Die irreversible Tötung eines Menschen ist zweifellos eine völlig andersartige Verletzung seiner Würde als das Androhen von Folter. Insofern ist die mit deren irreversibler Zerstörung verbundene Freigabe menschlicher Embryonen für die Forschung (Experimentieren mit "Menschen" ohne Einwilligung) von andersartiger Qualität als die Einschränkung des Folterverbotes.
Beim Akzeptieren des Begriffes Mensch als Lebewesen von der Zygote bis zum Tod sollte jede Art der Tötung ohne Einschränkung "verboten" sein, das gilt für Embryonenforschung, für Abtreibung, für Tötung von behinderten Neugeborenen und für Euthanasie, selbstverständlich auch für die Todesstrafe. Die Tötung ist ein einzigartiger Ausnahmetatbestand, sie ist final, sie ist nicht heilbar. Die Tötung von Menschen bewirkt Veränderungen des Täters, sie setzt unter anderem die Tötungshemmung herab. Die Abtreibung beinhaltet Mordmerkmale, der Ministerpräsident, Geburtshelfer und Professor Böhmer verstieß gegen die politische Korrektheit, als er wagte, einen Zusammenhang zwischen Abtreibung und Kindstötung herzustellen. Verstöße gegen das Tötungstabu sind Verstöße gegen das Leben, nicht gegen eine kaum zu definierende Würde. Alle anderen möglichen Inhalte von Würde sind qualitativ andersartig, sie sind nicht final. Menschliches Leben ohne menschliche Würde ist vorstellbar, menschliche Würde ohne menschliches Leben hingegen ist ausgeschlossen.
Im Fall Gäfgen/Daschner wurde die Einleitung einer Dienstaufsichtsbeschwerde gegen mich gefordert, weil ich die Meinung vertreten habe, Daschner müsse für seine Zivilcourage (er war sich bewusst, was ihm drohte) mit dem Bundesverdienstkreuz belohnt werden. Die Rechtsabteilung der Universität Frankfurt hat mich beruhigt, meine Äußerung sei gerade noch mit der Meinungsfreiheit eines deutschen Professors vereinbar. Wurde auch gegen Herrn Kollegen Dreier Dienstaufsichtsbeschwerde erhoben? Ich hätte es übrigens als Verletzung meiner Würde angesehen, wäre ich dazu gezwungen worden, dem Mörder Gäfgen im Gefängnis die Prüfung abzunehmen.
Die für Gäfgen folgenlose Androhung der Folter als Verstoß gegen seine Würde hätte unter Umständen die irreversible Vernichtung des Lebens (und der Würde) eines Kindes verhindern können. Wäre die öffentliche Reaktion im Erfolgsfall anders ausgefallen? Wie wären die öffentlichen Reaktionen gewesen, wenn sich herausgestellt hätte, dass das Kind gerettet worden wäre, hätte der Mörder das Versteck rechtzeitig bekannt gegeben? Kann die "unantastbare" Würde des feixenden bestialischen Mörders gleichwertig sein mit der Würde des unter seiner Handlungshoheit qualvoll sterbenden Kindes? Das verstößt gegen meinen Begriff von menschlicher Würde und von Menschsein. Als Vater ist mir jegliche Kritik an der Entscheidung Daschners unverständlich.
Hätte Gäfgen das Kind von Metzler mit einer Schusswaffe bedroht, hätte seine zu diesem Zeitpunkt mit seinem Leben identische Würde unstreitig und irreversibel durch den finalen Rettungsschuss beendet werden können. Ist die folgenlose Bedrohung (es sollte gerade keine Verletzung, keine Folter, erfolgen) der Würde gleichrangig mit der vorsätzlichen irreversiblen Zerstörung der Würde, dem Mord? Es sollte eine Definition des Begriffs Würde versucht werden. Es sollte stärker über "abgestufte Würde" nachgedacht werden, über konkurrierende Würde. Der Begriff Leben (auch abgestuftes Recht auf Leben) sollte von dem Begriff Würde als eigenständiges und übergeordnetes (höherrangiges) Rechtsgut getrennt werden. Dies hätte auch die Diskussion im Fall Gäfgen/Daschner versachlicht, da unterschiedliche und verschiedenwertige Rechtsgüter betroffen gewesen wären.
Es sollte auch diskutiert werden, ob der Mensch sich seiner Würde "freiwillig" entäußern kann. Kann die Würde des Mörders Gäfgen identisch sein mit der Würde der Verwandten seines Opfers? Oder hat nicht Gäfgen sich seiner "menschlichen Würde" begeben durch seine Tat, durch die irreversible Zerstörung der "Würde" und des Lebens eines Kindes, das ihm vertraut hat? In früheren Zeiten wurden den Kriminellen die bürgerlichen Ehrenrechte wenigstens auf Zeit abgesprochen. Verbrecher wie Gäfgen behalten heute nicht nur ihre Ehrenrechte, sondern auch ihre unantastbare Würde.
PROFESSOR DR. MED. HARALD FÖRSTER, FRANKFURT AM MAIN, LB FAZ 19.3.08
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen