1968 - Freiheit und Narrenfreiheit
Wolf Doleys
„Wohin treibt die Bundesrepublik?“, fragte Karl Jaspers 1966 mit Besorgnis und Temperament; er konstatierte eine Entwicklung zu Oligarchisierung und Erstarrung und richtete seinen Blick verhalten hoffnungsfroh auf die Studentenbewegung. Seit der Romantik durfte jede ‚Bewegung‘ in Deutschland auf positive Aufmerksamkeit hoffen.
Gut drei Jahrzehnte später läßt sich fragen, wo das bewegte Deutschland denn nun angekommen sei. Da es sich bei Deutschland um einen recht abgehobenen Kollektivbegriff handelt, wäre allerdings besser zu fragen, wie es um die Person, die Hegel seinerzeit zugunsten von Staat und Sittlichkeit abschaffte, heute bestellt sei, so diese Person in Deutschland als Bürger beheimatet ist, und in welchem Rahmen sie politisch gedeihe oder verderbe. Denn die Person, der Einzelmensch, das Individuum ist als kleinste Einheit des Erlebens das Maß aller Dinge; erst danach rangieren die Vergesellungsformationen, in denen die Person lebt und die natürlich auf den Einzelnen zurückwirken.
Neue Freiheiten standen 1968 auf der Tagesordnung des aktiven Teils der studentischen Jugend. Die sexuelle Freiheit etwa, die Freiheiten der persönlichen Lebensführung überhaupt, Wahlfreiheiten wie der Vollbart und die langen Haare, der offene Hemdkragen, Rock‘n Roll im Radio, die lässige Haltung zuhause wie im Fernsehstudio; aber auch Freiheit für den Vietcong, die PLO, für die Länder der sogenannten Dritten Welt.
Was ist daraus geworden?
Jeder sieht es täglich: die Sexualität, die der Mensch gemeinsam hat mit Spinnen, Insekten und allen anderen Wirbeltieren, womit ihr kultureller Gehalt im Kern in aller Kürze umschrieben ist, avancierte zum gesellschaftlichen Lieblingsspiel und blickt und schreit aus jeder Ecke und von jeder Wand mit abertausend Nacktheiten und Anzüglichkeiten; obwohl natürlich von stärkster Wirkung, ist sie durch das Übermaß fast ein wenig langweilig geworden, so daß vitale Triebnaturen in endloser Spirale immer stärkere Reize suchen und die sexuelle Gewaltkriminalität seit etwa 1975, wie überhaupt die Tötungsrate, nach langem Sinken wieder beständig ansteigt. Umfassender konnte also die sexuelle Befreiung nicht siegen, zu fragen wäre höchstens, inwieweit es sich um eine Befreiung zugunsten von solchen Menschen handelt, die für andere Menschen, die nicht dauernd ans Kopulieren denken, erneut starke Zwänge hervorgebracht hat, nur eben in umgekehrter Richtung. Sogar stellt sich die Frage, ob denn bei einem so starken Triebpotential wie der Sexualität überhaupt sinnvoll von ‚Befreiung‘ und ‚Freiheit‘ gesprochen werden kann oder sollte und nicht eher vom Anlegen der Leine der Hörigkeit, wie das Brechts hübsches Liedchen von der sexuellen Hörigkeit in der Dreigroschenoper eindrücklich vor Augen stellt.
Auch die Lässigkeit hat auf der ganzen Linie gesiegt. Ob Bühne, Straßenbahn oder Fernsehen: die Hose wird enger oder weiter, alles schriller oder bunter, angemalter oder durchbohrter; Herr Solana und jeder Seifenvertreter trägt eine Variarion von Bart, mit der er 1960 nirgendwo hätte antreten dürfen. Gleiches gilt für Gerüche und Manieren: bei Knoblauchgestank im Aufzug, bei Urindunst im U-Bahn-Gang, beim geräuschvollen Speisen in Vorlesung und Seminar mag sich mancher schon andächtig die glattrasierte Büroklammerästhetik früherer Jahre samt den zugehörigen Manieren zurückgewünscht haben.
International sieht die Bilanz ganz ähnlich aus. Die nordvietnamesische Diktatur und der Vietcong haben gewonnen und den Süden Vietnams versklavt; die PLO hat Milliarden von der EU eingestrichen und Arafat und seine Clique waren so frei, sich in die Riege der Superreichen einzureihen; auch Mugabe hat die große Freiheit für sich verwirklicht und läßt Oppositionelle und weiße Bauern massakrieren, dabei eine schwere Hungersnot bewirkend; die Aufzählung ließe sich beliebig weiterführen.
Die kulturellen Verkrustungen im Gefolge zweier verlorener Kriege und einer gnadenlosen Diktatur wurden in den Wohlstandsjahren der Sechziger aufgebrochen, doch wurde die Kultur im Wortsinne der ‚Pflege‘ gleich mit durchgeharkt; aus Vernunft wurde Unsinn, aus Wohltat Plage, ganz wie es im FAUST heißt, „Weh dir, daß du ein Enkel bist!“ (V. 1976)
Wenn es nur bei der Umdrehung der Zwänge geblieben wäre. Die Person des Enkels muß nicht nur die neuen Geßlerhüte grüßen, wenn er „in“ und „on“ sein will. Im Unterschied zur Adenauerzeit werden ihm im Maximum, indirekte Steuern eingerechnet, rund siebzig Prozent seines Einkommens vom Staat entwendet und einer Fürsorge- und Verteilungsbürokratie zugeleitet. Bart ab oder nicht, Hose runter vor der Kamera oder Mütze auf im Studio, das sind Dinge des Geschmacks und der Narrenfreiheit. Die Freiheit der Person gründet jedoch auf ihrem Eigentum. Die Verfügung über das eigene Einkommen, Vermögen und Eigentum erlaubt der Grundlage nach am ehesten eine selbstgewählte Lebensführung. Seit der Magna Carta Libertatum von 1215 wuchsen diese Einsicht und diese Praxis in der angelsächsischen Kultur, während anderswo, besonders im großfeudalen Osteuropa, Sonnenkönige herrschten, die, auch bei Erlaubnis des Räsonierens, den bedingungslosen (Steuer-)Gehorsam ihrer Untertanen erzwangen. Aus den Sonnenkönigen wurden inzwischen Regierungspräsidenten und Finanzamtmänner, die ungnädig selbst darüber entscheiden, ob ein Bürger das eigene Geld in voller Höhe für die eigene Weiterbildung verwenden darf oder nicht. Mit einer Staatsquote von über fünfzig Prozent ist die Person fast vollständig zu einem an der langen Leine geführten Anhängsel der Staatsbürokratie geworden, ist Max Webers bürokratisches Gehäuse der Hörigkeit in einem Maße errichtet, das nur noch durch offensive Gewalt gesteigert werden kann. Noch ist man bei der Abschaffung des Bankgeheimnisses und der Einrichtung eines Systems der lückenlosen Erfassung aller Kontobewegungen des einzelnen Bürgers.
Was nimmt da wunder, daß auch das Parlament durch gewerkschschaftlich dominierte Kommissionen weitgehend entmündigt wurde? Das hatte sich Jaspers seinerzeit nicht vorstellen können und hätte den Wortgewaltigen wohl sprachlos gemacht.
Die 68er mit ihren Führern Fischer und Schröder können behaupten, eine seit langem nicht erreichte Stufe der Wirtschaftslähmung und der persönlichen Unfreiheit durch Konfiskation und Bürokratie verwirklicht zu haben. Herzlichen Glückwunsch, die Herren!
(Jan. 2003)
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