Gute policey oder Das Recht als Vehikel der Mehrheitsmoral
Der moderne Staat, der sich für die soziale Sicherheit seiner Bürger und einen Interessenausgleich zwischen ihnen einsetzt, hebt eine wesentliche Errungenschaft der Neuzeit, die von Kant begründete Trennung von Recht und Moral, wieder auf. Die Forderung nach Millimetergerechtigkeit führt zu einer neuen Moralisierung des Rechts und der Politik, bei der es oft darum geht, Einstellungen und Überzeugungen der Bürger zu verändern.
Von Professor Dr. Uwe Volkmann, FAZ 29.4.08
Welche moralischen Ansprüche der Staat an seine Bürger stellen darf, ist eine bis heute nicht befriedigend geklärte Frage. In ihr verbinden sich seit je verschiedene andere Erwägungen, etwa die, ob es die Aufgabe des Staates ist, die Bürger zur Moral hinzuführen, oder überhaupt die Frage, ob es eine moralische und nicht bloß eine rechtliche Pflicht ist, den Anordnungen des Staates Folge zu leisten.
Bis in die frühe Neuzeit hinein gab es auf all diese Fragen nur eine einzige und völlig einhellige Antwort. In einer stark zugespitzten, in mancher Hinsicht aber durchaus typischen Fassung findet sie sich schon in der platonischen Philosophie. Für Platon unterlag es nicht dem geringsten Zweifel, dass der Staat vor allem dazu da war, seine Bürger zu guten oder zumindest besseren Menschen zu machen. Auch die Gesetze sollten deshalb in den Bürgern den Willen zur Tugend wecken, weshalb der Gesetzgeber ihnen zweckmäßigerweise einen Vorspruch voranstelle, in dem er die Moralität der von ihm getroffenen Regelung erläutere. Das Gesetz wirkt dann vor allem durch die Überzeugungskraft seiner Gründe, während Zwang nur für die Uneinsichtigen gebraucht wird und gleichsam nur den gerechten Ausgleich für moralische Taubheit bildet.
Wie man sich das im Einzelnen vorzustellen hat, demonstriert Platon am Beispiel der Familiengründung. Weil diese sowohl der natürlichen Anlage des Menschen entspreche als auch in ihrer Bedeutung für den Bestand des Staates außer Frage stehe, solle, so schreibt er, das Gesetz festlegen, dass man im Alter zwischen dreißig und fünfunddreißig Jahren heirate. Wer dann dem Gesetz folge, werde frei von Strafe bleiben; wer ihm aber nicht folge und nach seinem fünfunddreißigsten Jahr noch immer nicht verheiratet sei, müsse im Jahr um soundso viel gestraft werden, damit er nicht glaube, das ledige Leben bringe ihm Ersparnis und Bequemlichkeit; auch solle er keine von den üblichen Ehrenbezeugungen empfangen. Das Gesetz führte die Bürger auf diese Weise zur Tugend hin, und es war deren Sache, dies als das ihnen von Natur aus Gemäße anzuerkennen.
Diese Sichtweise blieb, mit einigen leichten Verschiebungen, bis in die frühe Neuzeit hinein bestimmend. Der Staat war Wächter, Hüter und Vollstrecker der gemeinschaftlichen wie der individuellen Moral, die er mit Hilfe seines Rechts verbindlich machte. Sieht man daraufhin etwa die Polizeiordnungen des 16. oder 17. Jahrhunderts in Deutschland durch, so bestehen sie neben den schon damals bekannten Vorschriften zur Gefahrenabwehr zu einem erheblichen Teil aus dem, was man heute Anstandsoder Benimmregeln nennt: aus Verboten des Fluchens und Schwörens, des Luxus und des Müßiggangs, des übermäßigen Trinkens und der Völlerei, und man findet dort auch die sprichwörtlichen Kleiderordnungen, die jedem Bürger zu den verschiedenen Anlässen die standesgemäße Bekleidung vorschrieben. All dies zielte auf einen Zustand guter Ordnung des Gemeinwesens, wie er im Begriff der "guten policey" versammelt war.
So selbstverständlich wie der Staat den Glauben seiner Bürger bestimmte, so selbstverständlich gängelte er sie auch moralisch. Recht und Moral waren dann im Grunde eins, sie hatten denselben Inhalt, denselben Zweck und weitgehend auch dieselbe Wirkung. Das sichtbare Zeichen dieser Verschränkung war bis in die Neuzeit hinein der Schandpfahl oder Pranger, an den gestellt wurde, wer gegen bestimmte Gebote des Rechts verstoßen hatte. Ausgestellt auf einem Markt oder vor dem Rathaus, die Glieder in Eisen gelegt, den Kopf durch eine Aussparung hindurchgezwungen, fand sich der Verurteilte der öffentlichen Beschimpfung, dem Bespucken und der Scham preisgegeben. Im Gewand eines justiz- und rechtsförmigen Verfahrens verbarg sich so die typische Reaktion auf moralisches Fehlverhalten, wie sie seit je in sozialer Missbilligung und Ächtung bestand. Wer sich gegen das Recht vergangen hatte, hatte sich damit zugleich an der gemeinschaftlichen Moral versündigt, und mit ihm musste deshalb so verfahren werden, wie es dem Ausmaß der Schande entsprach, die er über sich und die Gemeinschaft gebracht hatte.
Demgegenüber hat die Neuzeit die Trennung von Recht und Moral zum Programm erhoben, mit der sie für manche recht eigentlich erst beginnt. Ebenso markant wie zuvor von der Einheit von Recht und Moral wird nun davon ausgegangen, dass zwischen Recht und Moral bei allen Berührungspunkten, die es geben mag, ein kategorialer, in den unterschiedlichen Funktionen begründeter Unterschied besteht. Auf ihren höchsten Punkt geführt worden ist diese Trennung in der Rechtsphilosophie Immanuel Kants, die gerade gegen die Tugendzumutungen des Polizei- und Wohlfahrtsstaates gewendet war: Eine Regierung, die ihr Volk so behandele wie ein Vater seine unmündigen Kinder, die nicht wüssten, was für sie nützlich oder schädlich sei, dies war für Kant "der größte denkbare Despotismus". Stattdessen will er den Staat weitgehend auf die Wahrung der Ordnung beschränken, wie es dem liberalen Geist der Zeit entsprach. Das Recht ist dann im Wesentlichen nur noch dazu da, die verschiedenen Freiheitssphären voneinander abzugrenzen, als "Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen unter einem allgemeinen Gesetz der Freiheit vereinigt werden kann".
In der Konsequenz regelt und erfasst das Recht nur noch das äußere Verhalten, während die Moral für die Innensteuerung aufkommt. Moral ist dann eine Sache eigener Anlage und Entscheidung; das Recht setzt nur den Rahmen, innerhalb dessen es dem Einzelnen ermöglicht wird, moralisch zu sein. In der Trennung steckt deshalb nicht zuletzt ein Freiheitsgewinn: Zu den Gesinnungen dringt der Staat nicht vor, sie bilden den Raum, in dem der Einzelne ganz für sich ist und niemand über ihn zu Gericht sitzen darf als er selbst. Warum einer dem Recht gehorcht, ist dann gleichgültig, solange er ihm überhaupt gehorcht. Dieser Sicht entspricht ein anderer Zugriff auf den Menschen: Die Moral sagt dem Menschen, wie er sein soll, das Recht nimmt ihn, wie er ist, in seiner Mangelhaftigkeit wie in seiner Verführbarkeit.
Bis auf den heutigen Tag gilt die Kantische Trennung von Recht und Moral als eine der zentralen Errungenschaften der Moderne. Es gibt allerdings gute Gründe für die Annahme, dass sie in der Strenge, mit der Kant sie verkündete, von Anfang an etwas Gekünsteltes hatte, wenn sie nicht überhaupt ein bloß aus den Zeitumständen zu erklärender Irrtum war. Schon immer gab es zwischen Recht und Moral einen Überschneidungsbereich, der mit dem Begriff des moralischen oder ethischen Minimums gekennzeichnet wurde. Mord und Totschlag, Diebstahl und Betrug sind deshalb seit je moralisch wie rechtlich verboten, so dass sich auch die Befolgung dieser Verbote oft einem moralischen Motiv verdankt und deshalb in vielen Fällen gar nicht erzwungen werden muss.
Wegen der Vorteile, die das Recht als Friedensordnung für jeden von uns hat, kann man sogar Gründe dafür angeben, dass man auch moralisch verpflichtet ist, dem Recht zu gehorchen, und zwar unabhängig davon, welchen Inhalt es gerade hat. Ausschlaggebend dürfte jedoch sein, dass die Trennung von Recht und Moral, wie Kant sie formuliert hat, von der Seite des Staates aus unmittelbar mit dessen Beschränkung auf die Wahrung der Ordnung zusammenhing. Das war im Kern eine eher technische Aufgabe, für die das Recht nur als eine Art Zaun um die individuellen Freiheiten herum benötigt wurde. Mit der Erweiterung des staatlichen Aufgabenkreises um die Lösung der sozialen Frage entfiel die Prämisse dieser Konstellation. Der Staat wandelte sich von dem Nachtwächterstaat, als der er bei Ferdinand Lassalle verspottet war, zu einem aktiven, in die Gesellschaft intervenierenden Staat, der sich für die soziale Sicherung seiner Bürger und einen gerechten Interessenausgleich zwischen ihnen engagierte. Mit nur gelinder Überspitzung kann man sagen, dass die Gerechtigkeit selbst damit Staatsziel geworden war, und zwar nicht als bloßer Reflex eines allseitigen Freiheitsgebrauchs, sondern als etwas aktiv zu Bewirkendes, ein Gut oder eine Ware, die der Staat zur Verfügung zu stellen hat. Fortan wird er zum Vorkämpfer für eine bessere, moralischere Welt, und es ist dann nur zwangsläufig, dass sich dies auch in seinem Recht bemerkbar macht.
Rückblickend kann man in dieser Entwicklung den Auftakt einer neuerlichen Moralisierung von Recht und Politik sehen, die im Begriff der Gerechtigkeit bis heute eines ihrer wichtigsten Einfallstore hat. Sie hat aber im Laufe der Zeit eine neue Qualität erlangt, die man gerade an der beispiellosen Karriere des Begriffs ersehen kann. In ihm gehen Recht und Moral seit jeher eine Verbindung ein, insofern Gerechtigkeit von ihrem Inhalt her elementarer Zielwert des Rechts ist, von der Art ihrer Geltung her aber eine moralische Kategorie.
Allerdings war Gerechtigkeit gerade als solche lange nur eine abstrakte, der Ausfüllung bedürftige Vorgabe, die deshalb auch nur in einigen sehr allgemeinen und fundamentalen Prinzipien Gestalt annahm: den Freiheitsund Gleichheitsrechten, dem demokratischen Prinzip, der Grundentscheidung für den Sozialstaat. Die heutige Bedeutung von Gerechtigkeit geht darüber weit hinaus. Gerechtigkeit ist ohne nennenswerte Gegenwehr zu einer politischen Allzweckwaffe ausgebaut worden, die für alle anstehenden Fragen das passende Rezept zu liefern verspricht: als Straf- und Verfahrensgerechtigkeit, als Gerechtigkeit im Bildungssystem, als umfassend verstandene soziale Gerechtigkeit.
Eine Reform des Steuerrechts oder der Sozialversicherung kann nicht mehr allein mit den Vorteilen der Klarheit und Einfachheit begründet werden; sie hat vielmehr nur dann Aussicht auf Verwirklichung, wenn es ihr gelingt, als die gerechte, besser noch als die einzig gerechte Sache zu erscheinen. Denn nur was gerecht ist, hat Aussicht, im politischen Prozess gehört und durchgesetzt zu werden, ebenso wie etwas in diesem Prozess sofort erledigt ist, wenn es den Gegnern gelingt, es als ungerecht zu brandmarken.
Es ist dann nur folgerichtig, wenn auch das Produkt dieses Prozesses, das demokratisch erzeugte Recht, mit der Vorstellung von Gerechtigkeit behaftet wird, und zwar nicht nur in einzelnen obersten Fundamentalsätzen, sondern auch in seinen Niederungen und mikroskopischen Verästelungen. Gerechtigkeit verliert dadurch ihren bisherigen Charakter als fernes Ideal und nie ganz zu Erreichendes; sie wird vielmehr etwas, was man bis ins Detail festschreiben kann und muss, und im Gesetz verkörpert es sich. Auch die Befolgung eines, sagen wir, Steuergesetzes wird dann wieder zu einem moralischen Akt, einer Verbeugung vor dem, was die politische Gemeinschaft je und je für gerecht befunden hat.
Aber auch unterhalb solcher Großformeln kann man beobachten, wie das Recht im Laufe der Jahre immer moralischer geworden ist. Das Privatrecht ist, wie das Bundesverfassungsgericht einmal festgehalten hat, schon vor längerer Zeit vom Reich der Privatautonomie in eine materiale Ethik sozialer Verantwortung rückgebunden worden, die dann gegenseitige Treuepflichten und besondere Rücksichtnahmepflichten gegenüber der schwächeren Vertragspartei gebiert. Im Recht der Gefahrenabwehr erlebt unter Schlagworten wie "null Toleranz" seit einigen Jahren der Begriff der öffentlichen Ordnung eine Renaissance, der gerade auf die Verletzung ungeschriebener, also moralischer Normen bezogen ist. Verhaltensweisen wie bestimmte Formen der Bettelei oder Alkoholkonsum in der Öffentlichkeit, die man noch vor einiger Zeit als bloß ungehörig angesehen hätte, werden deshalb verstärkt auch polizeilich unterbunden. Im Handels- und Gesellschaftsrecht sind in einem unklaren Zwischenreich zwischen Recht und Moral Regelwerke für "Compliance" oder "Corporate Governance" formuliert worden, die die Unternehmen verpflichten sollen, rechtliche und ethische Standards einzuhalten.
Zunehmend gilt, wie Bernhard Schlink kürzlich notiert hat, dass sich die Gesellschaft immer schwerer tut, rechtlich zu tolerieren, was moralisch zu verurteilen ist. Verstößt die Zahlung einer Abfindung an ausscheidende Vorstandsmitglieder von ihrer Höhe her gegen den allgemeinen Anstand, soll sie gefälligst auch durch das Recht sanktioniert werden, wie es der mittlerweile ohnehin zu einer Generalklausel für unsittliches Verhalten mutierte Untreueparagraph bezeugt. Erscheinen die Gehälter bestimmter Berufsgruppen unter moralischen Gesichtspunkten fragwürdig, kann man darauf wetten, dass irgendjemand danach rufen wird, sie gesetzlich zu begrenzen. Das Recht wird so immer stärker zum Vehikel der jeweiligen Mehrheitsmoral, die sich ihm in Spiralen medialer Aufgeregtheit und Skandalisierung unwiderstehlich aufzwingt.
An die Stelle der hypothetischen Trennung von Recht und Moral ist mehr und mehr ein realer Gleichlauf getreten. Dieser Gleichlauf wirkt naturgemäß in beide Richtungen und zeigt sich dann etwa auch darin, dass Lockerungen der Moral Lockerungen des Rechts nach sich ziehen. Strafvorschriften wie das Blasphemie-, das Polygamie- oder das Inzestverbot, über deren innere Berechtigung keine Einigkeit mehr herrscht, sind deshalb längst unter Druck geraten; über den Fortbestand des Inzestverbots musste sich kürzlich sogar das Bundesverfassungsgericht den Kopf zerbrechen.
Aber in der Breite überwiegt doch der Eindruck, dass die Daumenschrauben eher fester gezogen werden. Die Zahl der Straftatbestände hat über die Jahre nicht ab-, sondern zugenommen, so wie auch die Strafandrohungen nach jeder Welle moralischer Empörung kontinuierlich erhöht worden sind. Von der Billigung des Nationalsozialismus über das Stalking bis demnächst vielleicht zum Mobbing: die Liste der Verhaltensweisen, die vom Recht nicht mehr hingenommen werden, ist lang, und sie erscheint beliebig verlängerbar.
Es ist dann nur konsequent, wenn im Zuge der zunehmenden Moralisierung des Rechts auch der Pranger wieder in Mode kommt, in dem sie versinnbildlicht ist. In einigen amerikanischen Bundesstaaten gehört er als Methode eines "Creative Sentencing" bereits zu den regulären Strafen, die ein Gericht von Amts wegen verhängen kann; über die Grenzen hinaus bekannt geworden ist in diesem Zusammenhang etwa der Fall eines Ladendiebs, der dazu verurteilt worden war, sich mit dem Schild "Ich bin ein Dieb" vor dem Supermarkt aufzustellen, in dem er etwas gestohlen hatte - wovon man sich offenbar eine höhere Wirkung versprach als von jeder Gefängnisstrafe. Und gerade bei Personen des öffentlichen Lebens kann man sich auch hierzulande, wie kürzlich zu sehen war, durchaus Einsatzmöglichkeiten vorstellen. Die moralische Strafe geht in alledem sogar noch über die rechtliche Sanktion hinaus, die im Zeitpunkt ihrer Verhängung ohnehin niemanden mehr interessieren wird und von der jetzt schon jeder weiß, dass sie mit dem Ausmaß der gefühlten Schuld, die der Betreffende auf sich geladen hat, nicht annähernd Schritt halten kann.
Die Moralisierung von Recht und Politik drückt sich indes nicht zuletzt darin aus, dass dem Staat zunehmend auch die Gesinnungen der Bürger in den Blick geraten. Deren Entlassung aus obrigkeitlicher Bevormundung war die eigentliche Pointe der Trennung von Recht und Moral, und mit deren allgemeiner Aufweichung steht nun auch sie zur Disposition. Zwar ist keinem Staat die Moralität seiner Bürger je ganz gleichgültig gewesen. Die staatlichen Schulen sollen deshalb neben dem abstrakten Wissen stets auch bestimmte Werte vermitteln. Und das staatliche Strafen soll, nachdem die Idee der Vergeltung an Plausibilität verloren hat, den Täter wieder auf den Pfad des Rechts zurückführen, ihn also gleichsam von innen her neu programmieren. Das Sanktionenrecht kennt deshalb schon länger die Maßregeln der Besserung und Sicherung, so wie auch das Jugendstrafrecht traditionell am Erziehungsgedanken orientiert ist.
Aber von dort scheint der Erziehungsgedanke nun gewissermaßen allgemein geworden zu sein. Die neue Beliebtheit des schon von Platon empfohlenen Hinweises auf die Moralität der zu treffenden oder schon getroffenen Regelung ist dafür ebenso ein Anzeichen wie der Umstand, dass auch die bloß appellativen Normen im Recht zunehmen. Generell wird das Recht mehr und mehr eingesetzt, um Überzeugungen und Einstellungen der Bürger zu verändern: Die Gesetzgebung zur Bekämpfung der Schwarzarbeit wird damit begründet, dass sie den Sinn für deren Sozialschädlichkeit schärfen soll; das Umweltrecht hat auch den Zweck, das Umweltbewusstsein zu fördern, wie es im ursprünglichen Entwurf für ein einheitliches Umweltgesetzbuch ganz offen ausgesprochen war; die neuen Antidiskriminierungsgesetze sollen vor allem ein Klima erzeugen, aus dem heraus es erst gar nicht mehr zu Diskriminierungen kommt.
Aber nicht nur in Teilgebieten, überall ist der Grundzug des Ganzen zu beobachten: Die Arbeitsmarktreform will den Willen zur Arbeit wecken, die Familienpolitik den Entschluss zur Familie, das Ausländerrecht die Bereitschaft zur Integration. Vor allem bei der staatlichen Förderung der Umweltmoral sind auf diese Weise geradezu spektakuläre Erfolge erzielt worden, von denen man in anderen Bereichen vorerst nur träumen kann. Aber die Mülltrennung immerhin hat der Bürger heute verinnerlicht, sie ist ihm zur zweiten Natur geworden, so dass man sich gar nicht ausmalen mag, welche Erschütterungen das kollektive Gemüt erlitte, müssten dereinst aus Wirtschaftlichkeitsgründen die Gelben Tonnen eingezogen werden.
Man kann dann ketzerisch fragen, ob nicht in alledem wieder ein Stück des alten Tugend- und Erziehungsstaats zurückgekehrt ist, so wie er in der antiken Philosophie entworfen war. Sicher diktiert heute kaum noch ein Staat seinen Bürgern, dass sie in einer bestimmten Phase ihres Lebens zu heiraten haben, wie es Platon vorschwebte. Aber die Heirat wird immerhin steuerlich begünstigt und damit vom Recht angeregt, so wie umgekehrt potentiell schädliche Verhaltensweisen - ein gefährlicher Sport, der Eintritt in eine Sekte, die Genusssucht - nicht mehr einfach verboten sind.
Aber zunehmend empfiehlt der Staat, rät, gibt zu bedenken, warnt oder legt nahe; gegebenenfalls werden, wie im Kampf gegen das Rauchen, die Räume enger gemacht, die für bestimmte Verhaltensweisen zur Verfügung stehen. Und wenn künftig eine rote Ampel auf der Verpackung signalisiert, von welchen Lebensmitteln man besser die Finger lässt, so kostümiert sich auch darin ein sanfter Paternalismus, der die Leute wieder an die Hand nimmt und zu dem hinführt, was ihnen zuträglich ist.
Der Staat hätte so gesehen gar nicht das Ziel aufgegeben, seine Bürger zu vollkommeneren Menschen zu machen, sondern bloß die Mittel verfeinert, mit deren Hilfe es erreicht werden soll. Aber dies geschieht weithin nicht gegen die Bürger, sondern mit ihnen und mit ihrer Unterstützung; es vollzieht nur die allgemeine Entwicklung einer Gesellschaft nach, die mit den Jahren zunehmend ins Moralisieren gekommen ist und mittlerweile selbst die Nahrungsaufnahme zu einem moralischen Akt erklärt hat. Gegessen wird deshalb schon lange nicht mehr, was auf den Tisch kommt oder bloß schmeckt, sondern was zur Bildung des Körpers beiträgt, was ökologisch produziert ist, was auf dem Weltmarkt zu fairen Preisen gehandelt wird und vieles mehr. Es wären dann nur die nicht von sich aus Gutwilligen, die zu spüren bekommen, dass Permissivität und Geduld ihre Grenzen haben. Doch dann kann es jeden treffen: die Manager und die Arbeitslosen, die Raucher und die Trinker, die Dicken und die Dünnen, denen je nachdem bedeutet wird, dass sie an ihrer Einstellung zu sich und zu der Welt, die sie umgibt, noch arbeiten müssen.
Ein Unterschied zum älteren Tugend- und Erziehungsstaat besteht allerdings - vorsichtig ausgedrückt - in einer gewissen Unklarheit über Richtung und Ziel des Ganzen. Die antiken oder mittelalterlichen Philosophien, die ihn einst ausgerufen hatten, waren allesamt noch geprägt von einer Sicherheit über das Woher und Woraufhin des Menschen, von der sie ihren Inhalt empfingen und auf die dann wie selbstverständlich auch der Staat hinzuordnen war. Der neue Moralismus der Majorität hat gerade hier eine Leerstelle. Vielleicht erklärt dies die irritierende Gleichzeitigkeit, die zwischen diesem Moralismus und dem verbreiteten Empfinden besteht, dass man mit Moral heute nicht allzu weit kommt. Stattdessen setzen sich in der Realität zunehmend andere Kräfte durch: die Notwendigkeit der Behauptung in einem immer kälteren Wettbewerb, eine allgemeine Schnelligkeit und Rechenhaftigkeit des Lebens, die Erforderlichkeit immer höherer Anpassungsleistungen im privaten wie im beruflichen Alltag, Entwicklungen also, die allesamt nur lehren, dass jeder sich selbst der Nächste ist und deshalb rechtzeitig sehen muss, wo er bleibt.
Überhaupt werden immer weitere Bereiche der Gesellschaft den Imperativen einer ökonomischen Zweckrationalität unterworfen, zu denen die allgemeine Mobilmachung in Sachen Moral gar nicht passt. Auch auf der Seite des Staatshandelns ist ja der Widerspruch nicht zu übersehen, der etwa zwischen dieser Mobilmachung und einer Bildungspolitik klafft, die statt Entwicklung der sittlichen Persönlichkeit in der Sache nicht mehr betreibt als Ausbildungspolitik nach Maßgabe des jeweiligen wirtschaftlichen Bedarfs. Möglicherweise hängt das eine mit dem anderen auf eine unbestimmte Weise zusammen, so dass also die Sehnsucht nach Bekräftigung der eigenen moralischen Grundlagen gerade deshalb stiege, je offensichtlicher wird, wie wenig davon noch vorhanden ist. Das lärmende Moralisieren erschiene dann nur wie der Versuch der Gesellschaft, die Leere in ihrem Zentrum zu übertönen, so wie ein Depressiver sich aus der Furcht vor der Trübsal in die Arbeit oder ein Hobby stürzen mag.
Dazu würde die Beobachtung passen, dass dieses Moralisieren meist nicht über eine Oberflächenmoral hinauskommt und auch die Orte so häufig wechseln, dass man Mühe hat mitzukommen. Propagiert wird dann etwa eine Abfall-, Steuer-, Ernährungs- oder Nichtrauchermoral, während die Frage nach dem übergreifenden Sinn des Ganzen, die Frage also, wozu man überhaupt gesünder, schlanker, tugendhafter werden soll, vorsichtshalber gar nicht gestellt wird.
Der Verfasser lehrt Rechtsphilosophie und Öffentliches Recht an der Universität Mainz.
- - "Die Moral errichtet ein höheres und fürchterlicheres Tribunal als das der Gesetze. Sie will nicht nur, daß wir das Böse vermeiden, sondern daß wir das Gute tun." Rivarol (1753-1801) Was das aber jeweils sei, darüber geht der Streit der Götter.
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