Fremde Federn: Jörg Himmelreich
Naive Fehleinschätzungen
Der Völkerrechtsbruch Russlands durch den Einmarsch seiner Truppen in die georgischen Konfliktzonen und durch Bombardierungen georgischer Infrastruktur als völlig überzogene Antwort auf die georgische Besetzung Zwinchalis werden die deutschen und europäischen Beziehungen zu Russland verändern. Deutsches Bemühen um eine Verbesserung der Beziehungen unter einem vermeintlich kooperativeren neuen russischen Präsidenten ist hart bestraft worden. Die russischen Militäraggressionen in der europäischen Nachbarschaft erinnern an schlimmste Zeiten des Kalten Krieges und offenbaren, wie wenig die EU selbst in der Lage ist, Europa und seine Nachbarn zu befrieden, wenn es durch harte militärische Gewalt bedroht ist. Wer will in Zukunft noch ähnliche russische Gewaltanwendung in der Ukraine oder im Baltikum "zum Schutze russischer Staatsbürger" ausschließen?
Die Rede des Präsidenten Medwedjew noch am 4. Juni in Berlin über Russlands neuen Einsatz zur Stärkung des Völkerrechts und eine gemeinsame Restrukturierung der europäischen Sicherheitsarchitektur war seinerzeit euphorisch aufgenommen worden. Außenminister Steinmeier sprach von nun an von dem Projekt einer "Modernisierungspartnerschaft" mit Russland, sozusagen als Zuschlag zur schon bestehenden "strategischen Partnerschaft". Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Worte des russischen Präsidenten werden vom Minister gerne als "Schaufensterpolitik" vom Tisch gewischt. Mitunter wähnte man sich sogar in dem fatalen Irrglauben, durch Entgegenkommen gegenüber Medwedjew dessen Stellung gegenüber Putin stärken zu können - auch dies ein Motiv, Georgien und der Ukraine die Einladung zum Nato-Beitrittsprogramm auf dem Nato-Gipfel in Bukarest erst in unbestimmter Zukunft zuzusagen. Deutsche Russland-Politik muss sich fragen lassen, wie sie immer wieder zu solch naiven Fehleinschätzungen tatsächlicher russischer Machtpolitik und tatsächlicher innerrussischer Machtverhältnisse kommt. Auch ist nicht zu verstehen, warum die Explosivität der georgischen Konflikte, auf die Experten schon seit Monaten hinweisen, so fahrlässig unterschätzt wurde. Die hektische Reisetätigkeit des Ministers Anfang Juli in die Konfliktregion zeigt, wie spät die Erhitzung der Konflikte wahrgenommen wurde, die Putin schon unmittelbar nach dem Nato-Treffen in Bukarest mit der Einleitung besonderer ziviler russischer Amtshilfe für Abchasien und Südossetien eingeleitet hatte.
Seit seinem Amtsantritt im Januar 2004 forderte der georgische Präsident von der EU Unterstützung zur friedlichen Konfliktbeilegung, die, abgesehen von einer zeitweiligen OSZE-Beobachtermission und 15 deutschen Soldaten im Rahmen der Unomig in Abchasien, nicht gewährt wurde. Immer wieder verstellte eine deutsche Fixierung auf die bekannte Hitzköpfigkeit des georgischen Präsidenten die nüchterne Analyse der tatsächlichen Bedrohtheit Georgiens durch Russland. Auch jetzt beginnen schon wieder die außenpolitischen Diskurse mit den üblichen naiven Analysen, die Georgien als Opfer der russischen Kriegsinvasion eilfertig zum Täter mit selbstverschuldeten Konsequenzen abstempeln. Der bekannte "deutsche Russland-Komplex" scheint eine Belastung der Beziehungen zu Russland um keinen Preis dulden zu wollen.
Auch das Russland unter Medwedjew hat bewiesen, dass es selbst vor militärischer Gewalt nicht zurückschreckt, die europäische Landkarte in seinem Sinne neu zu verändern. Im Zusammenhang mit der europäischen Ohnmacht und der derzeitigen Begrenztheit amerikanischer Eingriffsmöglichkeiten markiert der russische Einmarsch eine sich abzeichnende neue geopolitische Ordnung, in der Russland in Europa auch über seine Energiemacht hinaus Gestaltungsmacht wiedergewonnen hat. Diese Erkenntnis macht den Umgang mit dem russischen Koloss nicht einfacher. Aber eine nüchterne Einschätzung dieser neuen jetzt zutage getretenen russischen Machtambition wäre die beste Voraussetzung für eine neu justierte deutsche Russland-Politik. Anstelle deutscher Sonderwege gegenüber Russland scheint derzeit eine engere deutsche Abstimmung auch mit den osteuropäischen EU-Mitgliedstaaten und mit Washington mehr Erfolg haben zu können.
Der Autor ist Senior Transatlantic Fellow des German Marshall Fund in Berlin. FAZ 15.8.
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