Die pure Macht des Größeren: ein russischer Konvoi schiebt sich voran
Georgien
In der schwierigsten Zeit meines Lebens.
Wie ist es, wenn der Krieg vor das eigene Haus kommt? Mit den russischen Angriffen auf Tiflis zeigt der große Nachbar sein wahres Gesicht. Von Alexander Darchiashvili
15. August 2008 FAZ. In der Nacht wurde der Sturm auf die Stadt erwartet. Ich lebe am Stadtrand. Vor meinem Haus gruben sich georgische Soldaten ein. Russische Panzer rückten in Richtung Tiflis vor, und so hat es sich ergeben, dass die Frontlinie mitten durch meinen Innenhof verlief.
Spätabends ging ich ein paar Lebensmittel einkaufen. Das Geschäft war noch geöffnet. Bei der Gelegenheit holte ich mir noch Medizin aus der Apotheke. Die Stadt war beleuchtet (noch vor fünf Jahren gab es in Georgien selbst in friedlichen Zeiten kein Licht), durch die Straßen patrouillierten Polizeiautos, Büros waren noch besetzt, die Bankautomaten spuckten Geld aus, es fuhren Bus und Bahn. Und das nach fünf Tagen harter Kämpfe und täglicher Luftangriffe.
Russland will ein schwaches Georgien
Ich entschuldige mich für diese lyrische Abschweifung, aber in allem, was ich oben beschrieben habe, steckt der wahre Grund für die russische Aggression. Russland hasst das demokratische und blühende Georgien, weil es einen gefährlichen Präzedenzfall für den ganzen postsowjetischen Raum geschaffen hat. Russland braucht ein schwaches, uneiniges und zerstückeltes Georgien. Die russischen Machthaber hassen unseren Präsidenten Saakaschwili, denn sie halten ihn - zu Recht - für den Urheber und Antreiber aller positiven Veränderungen, die im Land in den letzten Jahren stattgefunden haben, für seine westliche Orientierung, für sein Bestreben, der Nato beizutreten, für die Integration in die Euro-Strukturen. Russlands Verdikt ist klar: Saakaschwili ist Moskau nicht genehm. Er muss abtreten.
In Georgien selbst ist das Verhältnis zu ihm, gelinde gesagt, nicht eindeutig. Das Gros der Bevölkerung unterstützt ihn, und in der Tat erhielt er bei den Wahlen 53 Prozent. Aber es gibt auch Unzufriedene. Denn für einen Teil der Bevölkerung hatten seine radikalen Reformen schmerzhafte Folgen. Aber wie dem auch sei, Saakaschwili veränderte das Land. Es gibt trockene Zahlen zum ökonomischen Wachstum, aber es gibt auch die emotionale Seite der Wahrnehmung der Wirklichkeit. Mir persönlich kommt es so vor, als würde ich in einem ganz anderen Land leben - komfortabler und demokratischer, als es gewesen war, bevor Saakaschwili an die Macht kam.
Ein Land in Eile
Er ist jung und energisch. Immer in Eile. Aber Georgien hat so viel Zeit verloren, dass ich seine Eile nur zu gut verstehen kann. Und das Wichtigste: Saakaschwili und seine Mannschaft haben es sogar geschafft, die Mentalität der Nation zu verändern. In den letzten Jahren wurden wir immer mehr zu Europäern. Genau so einen Saakaschwili kann Russland nicht gebrauchen. Aber wie soll ich, der einfache Bürger meines Landes, der Saakaschwili wählte und sein Porträt an der Wand hängen hat, wie soll ich mich verhalten?
Der Kampf gegen den Präsidenten Saakaschwili begann vor langer Zeit, fast unmittelbar nach dessen Amtsantritt. Um seinen Einfluss im Inneren des Landes zu schwächen und den Unmut der Bevölkerung zu schüren, organisierte Russland ununterbrochen Pogrome und Hetzkampagnen gegen die in Russland lebenden ethnischen Georgier, verbreitete antigeorgische Propaganda, verbot die Einfuhr georgischer Waren und verhängte letztlich eine Totalblockade gegen das Land.
Wer ist der Urheber des Kriegs?
Kaum jemand im Westen weiß, dass es zwischen Russland und Georgien einige Jahre lange keine Wasser-, Luft- oder Landverkehrsverbindungen gab. Die Visavergabe für die Einreise nach Russland wurde vollends eingestellt. Doch Saakaschwili hielt durch. Der vorletzte Versuch, ihn zu stürzen, wurde im November 2007 unternommen. Die Volksunruhen wurden abermals von den russischen Geheimdiensten provoziert. Aber auch da hielt er durch. Bei den Neuwahlen erzielte er einen überzeugenden Sieg. Russland blieb nur ein einziger Weg - der Krieg.
Heute fragt man sich, wer den Krieg angezettelt hat. Die Antwort ist einfach: derjenige, der zu dem Zeitpunkt seines Ausbruchs besser und gründlicher vorbereitet war. An dem Tag, an dem die Kampfhandlungen begannen, musste das georgische Militärgerät aus allen Teilen des Landes zusammengezogen werden. Schon fielen die ersten Schüsse, aber der größte Teil der Truppen befand sich noch auf dem Weg nach Zchinwali. Und selbst zum Ende der heißen Phase des Konflikts waren immer noch nicht alle Kräfte in den Kampf einbezogen. Dagegen wurden innerhalb der ersten zwölf Stunden nach Beginn der sogenannten georgischen Aggression die russischen Einheiten durch den einzigen Tunnel, den Roki-Tunnel, nach Südossetien verlegt - wohl organisiert, in einem Umfang von 1200 Stück Kriegsgerät, ganz zu schweigen von der Anzahl der Soldaten. Fragen Sie jetzt einen beliebigen Militärexperten, wer den Krieg angezettelt hat.
Ein scheinbarer Frieden
Es geschah eine Tragödie. Menschen kamen ums Leben. Tausende von Familien verloren das Dach über dem Kopf. Staats- und Regierungschefs auf der ganzen Welt äußerten ihre tiefe Besorgnis, und schließlich brachte Frankreichs Präsident Sarkozy den langersehnten Frieden aus Moskau mit, der anmutet wie jener Frieden, den Chamberlain seinerzeit aus München mitbrachte.
Aber das, was jetzt in Georgien geschah, kann morgen an jedem beliebigen Ort der Erde passieren. Heute findet Russland keinen Gefallen an Saakaschwili und Georgien. Aber auch von Juschtschenko und der Ukraine ist es nicht gerade begeistert. Vielleicht mag es morgen Frau Merkel nicht. Wie wird sich dann die Weltgemeinschaft verhalten? Wird sie Russlands Handeln missbilligen, ihre Besorgnis äußern?
Russlands Gleichgültigkeit
Man kann folgende Tatsache feststellen: Durch das schweigende Einverständnis der Anwesenden ist Georgien auf dem Schlachtfeld gefallen. Welche Opfer müssen noch gebracht werden? Was muss man noch tun, damit die Welt das wahre Gesicht Russlands sieht? Seine Werte begreift, seine Weltanschauung versteht? Russland ist es gleichgültig, was in der zivilisierten Welt über es geschrieben oder gesagt wird. Die öffentliche Meinung interessiert Russland nicht, es erkennt die allgemeingültigen Gesetze nicht an. Russland braucht seine Toten nicht zu zählen. Russlands Panzer sind schnell, und deren Panzerung ist fest.
Es ändert sich nichts. Und heute können wir zu den traurigen Stichworten Budapest im Jahr 1956, Prag im Jahr 1968, Afghanistan im Jahr 1979, Grosny im Jahr 2000 voller Verbitterung hinzufügen: Georgien im Jahr 2008 ... und innehalten ..., aber nur kurz ...., denn danach wird bestimmt folgen: Kiew im Jahr 2010 oder Paris im Jahr 2021.
Die Macht des Größeren
Früher oder später werden die Waffen endgültig schweigen. Aber auch der Frieden wird für Georgien nie wieder so sein wie ehemals. Wir fielen, doch wir haben gesiegt: moralisch gesiegt und gesiegt im militärischen Sinne. Noch nie hat die russische Armee solch große Verluste in solch kurzer Zeit erlitten. Die Erde Georgiens ist übersät mit Trümmern von russischen Flugzeugen. Auf den Schlachtfeldern liegen die Wracks Dutzender abgebrannter russischer Panzer.
Die Waffen werden verstummen. Die Anwesenden werden erleichtert aufatmen. Aber die russischen Sieger werden nicht verurteilt, weder für Abchasien noch für Tschetschenien oder Beslan und erst recht nicht für Zchinwali. Vor allem werden die Sieger nicht verurteilt für die noch nicht begangenen Verbrechen. Doch die Russen haben einen guten Spruch parat: Noch ist nicht aller Tage Abend.
Scham für das eigene Land
Uns bleibt der Schmerz, und das Verhältnis zu unseren Freunden auf der anderen Seite der Grenze wird nie wieder so sein, wie es gestern war. Auch unsere Scherze werden vorsichtiger ausfallen. Und es wird schwieriger für uns sein, einander in die Augen zu schauen.Für uns also wird der Frieden nie wieder das, was er früher einmal war. So viel zu uns. Aber wir wünschen uns sehr, die Frontlinie möge niemals mitten durch eure Innenhöfe verlaufen. Noch ist nicht aller Tage Abend.
P.S.: Bis zum Ende meiner Tage werde ich eine SMS aufbewahren, die ich in den schwierigsten Minuten meines Lebens aus der fernen russischen Stadt Nowosibirsk erhielt - von einem zwanzigjährigen Mädchen mit dem schönen russischen Namen Anastassija: „Alik, ich schäme mich für mein Land.“
Aus dem Russischen von Vlada Menz. Der georgische Schriftsteller Alexander Darchiashvili, geboren 1955, lebt in Tiflis. Er schreibt Gedichte und Erzählungen in georgischer, Prosa bisweilen auch in russischer Sprache. FAZ 15.8.
- Putin hat noch einen Pudel: "... Um jetzt eine Lösung des Konflikts voran zu treiben, sei es für die Europäer wichtig, die demokratischen Kräfte in Georgien zu unterstützen. „Wenn die Demokratie in Georgien politisch und wirtschaftlich funktioniert, kann sie zum Vorbild für Abchasien und Süd-Osssetien werden.“ Dies könne zum Beispiel durch eine Geberkonferenz für den Wiederaufbau Georgiens geschehen. Die EU dürfe nicht zulassen, dass die demokratischen Errungenschaften durch die Kriegspolitik von Präsident Saakaschwili gefährdet werden, der sein Land durch eine gewaltsame Wiedervereinigung in die NATO bringen will, so Rahr. Zudem rät der Experte, im Zuge der Verhandlungen die Beziehungen zu Russland nicht durch falsche Schuldzuweisungen aufs Spiel zu setzen. Russland fühle sich durch die diplomatische Anerkennung des Kosovo und die NATO-Osterweiterung gedemütigt und wolle nun zeigen, „wer der Herr im Hause ist.“ Darüber hinaus sucht Moskau zu verhindern, dass ein wiedervereinigtes Georgien in die NATO aufgenommen wird. Wichtig für die EU sei deshalb, eine aktive Friedenspolitik unter Einbeziehung Russlands zu betreiben. „Wenn möglich, sollten die Vermittler dabei die Amerikaner nicht ins Boot zu holen. Die Position von Präsident Bush polarisiert zu sehr.“ Um den Konflikt im Süd-Kaukasus langfristig zu lösen, müsse der Westen sein Modell einer Wiedervereinigung Georgiens mit Abchasien und Süd-Ossetien in Frage stellen. Auch deren Bemühungen um Unabhängigkeit zu unterstützen, sei nicht ratsam. Russland-Experte Rahr schlägt stattdessen eine große Konföderation Georgiens mit Abchasien und Süd-Ossetien vor. „Ein dreigeteiltes Georgien, dass nicht Mitglied der NATO wird – das ist ein Kompromiss, mit dem alle Seiten leben könnten. Noch besteht die Chance auf eine friedliche Einigung.“
DGAP-Experte Alexander Rahr über den Krieg in Georgien, die Rolle der EU und langfristige Lösungen, 12.08.2008 (http://www.dgap.org/dgap/presse/mitteilungen/view/1218532181.html)
- "... Die amerikanische Politik hat eine Woche seit Ausbruch der Kämpfe gebraucht, bis Außenministerin Rice den Weg nach Tiflis fand, um Georgien Unterstützung zu bekunden. Wie sehr oder vielmehr: wie wenig Moskau davon und von den bisherigen amerikanischen Einlassungen beeindruckt ist - am Freitag prangerte Bush noch einmal Russlands Politik des Drangsalierens und des Einschüchterns eines kleines Nachbarlandes an -, konnte Frau Rice selbst an Ort und Stelle erleben: Noch immer sind russische Truppen im georgischen Kernland präsent, zerstören militärische und zivile Infrastruktur und behaupten, dies stimme mit der Vereinbarung über eine Waffenruhe überein. ..." Warnung vor der Eiszeit. Der georgische Krieg: Hat Russland die Amerikaner belogen? / Von Klaus-Dieter Frankenberger, FAZ 16.8.
- - Yukos zerschlagen, Politkowskaja tot, Georgien geteilt - lustig ist das Kreml-Leben
Autokrat Putin und sein Pudel überfallen Georgien, die Panzer stehen immer noch vor Tiflis und in Gori, die imperialen Freunde füttern seit Jahren die separatistischen ossetischen Milizen, sie ziehen die Strippen für die endgültige Abspaltung - und die angemessene Reaktion auf diese Aggression, nämlich die Verurteilung, nennt Jäger "Russophobie". Da hat er wohl seinen Hut für den Gasprom-Aufsichtsrat in den Ring geworfen. Komm. zu: Georgien und Russland
Interessen? Wir?, L. Jäger, FAZ
- Übrigens: "1851 kämpfte Tolstoi in der kaukasischen Armee gegen Russland." (russlandjournal.de) Vgl. T., Kaukasische Novellen
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