Wojciech Fangor
'Finanzkrise. „Märkte sind grundsätzlich wild “
Stefan Bornholdt. FAZ 08. Dezember 2008 Die Akteure in der Finanzwelt haben viel zu lange nur auf ihre eigenen, individuellen Risiken geschaut. Dabei wurde die Frage vernachlässigt, an welchem Punkt das gesamte System ins Wanken kommt. Die Erforschung solcher systemischen Risiken ist auch in der Finanzwelt dringend erforderlich, sagt der Bremer Physikprofessor Stefan Bornholdt.
Herr Professor Bornholdt, kann man die internationale Finanzwelt mit einem komplexen naturwissenschaftlichen System überhaupt vergleichen?
Man kann die Finanzwelt sicherlich nicht so im Detail beschreiben wie ein physikalisches Modell. Aber es gibt Prinzipien und Phänomene, die man in realen sozioökonomischen Systemen beobachten kann, etwa den Herdentrieb oder Lawineneffekte, die aus physikalischen Systemen bekannt sind. Wir können daher durchaus Abschätzungen finden für verschiedene Verhaltensweisen auch in komplexen Finanzsystemen.
Eine Lawine unterliegt aber Naturgesetzen, das Finanzsystem dagegen menschlichen Verhaltensweisen, die nicht kalkulierbar sind.
Ich glaube nicht, dass im Wirtschaftsleben alles unkalkulierbar ist. Nehmen Sie das Beispiel der großen Stromausfälle in Nordamerika vor einigen Jahren. Das war auch ein Lawineneffekt, und er ließ sich ganz einfach darauf zurückführen, dass jedes einzelne Kraftwerk ganz egoistisch seine Stromproduktion verwaltete. Dabei wurden die Kapazitäten im Lauf der Zeit so heruntergefahren, dass bei einem plötzlichen Anstieg der Nachfrage die noch vorhandene Überproduktion nicht ausreichte, um lokale Engpässe unter benachbarten Kraftwerken immer ausgleichen zu können. Als die vorhandene Produktionsmenge also unter einen kritischen Wert fiel, war ein Lawineneffekt möglich, der schließlich über das ganze Land raste. Und hier tragen Physiker im Moment dazu bei, Sicherheitsmargen für die Stromproduktion auszurechnen, die garantieren, dass es keinen landesweiten Stromausfall mehr geben wird.
Das heißt, Physiker könnten Risikopuffer für Banken berechnen, die künftige Finanzkrisen dieser Art vermeiden würden?
Nach den Erfahrungen, die wir bei der Berechnung für Stromausfallrisiken gemacht haben, würde sich ein solcher Ansatz grundsätzlich auch in der Finanzwelt lohnen. Es geht darum, die systemischen Risiken besser zu erfassen. Die Risikoabschätzung der Banken schon beim einzelnen Finanzprodukt erscheint nicht so stringent, wie man es in naturwissenschaftlichen Systemen gewohnt ist, wo jede Hypothese und jede Theorie sehr streng empirisch nachgeprüft werden. In der Finanzwelt sind dagegen viele Axiome aus vergangenen Jahrzehnten noch gang und gäbe, die nie so streng an der Empirie geprüft wurden, wie es notwendig gewesen wäre. Das Optionspreismodell von Black und Scholes aus dem Jahr 1973 wird immer noch breit angewandt, obwohl es auf falschen Annahmen über die Häufigkeit von großen Preisänderungen beruht. In unserem naturwissenschaftlichen Alltag hätten wir ein solches Modell längst über Bord geworfen.
Was fehlt zudem?
Das systemische Risiko in der Finanzwelt wird viel zu wenig erfasst. Wie können sich Unsicherheiten und falsche Risikobewertungen zu einer Lawine im Gesamtsystem aufbauen? Diese Frage ist theoretisch noch weit weniger untersucht als die Risiken eines einzelnen Derivats.
Gibt es da nicht das grundlegende Problem, dass Naturwissenschaftler die Dinge möglichst vollständig erklären wollen, während Finanzmarktakteure ja gerade davon leben, dass Informationen unvollständig sind oder nicht jeder dasselbe weiß?
Jede Bank und jeder Finanzakteur haben ein Interesse daran, für sich selbst so viele Informationen wie möglich zu besitzen. Jeder will den Preis richtig einschätzen können. Und Märkte sind grundsätzlich wild und zum Teil chaotisch. Es wäre ein frommer Wunsch, zu meinen, dass man ein so dynamisches System ins Gleichgewicht bekommen kann. Es geht eher darum, einerseits das Ungleichgewicht optimal auszunutzen, um damit Geld zu verdienen. Diesen Teil beherrschen die Finanzakteure auch ganz gut. Aber andererseits muss darauf geachtet werden, wann das gesamte System kippen kann in einen Modus, wo niemand mehr gut damit leben kann. Das sind die systemischen Risiken. Im gegenwärtigen Zustand, wo jeder Akteur nur seine eigene Verhaltensweise optimiert, führt die Summe der Verhaltensweisen nicht dahin, dass das gesamte System stabilisiert wird. Deshalb müssten separate Mechanismen dafür sorgen, dass die Gefahren frühzeitig erkannt und bekämpft werden. Die Anzeichen für die Finanzmarktkrise waren ja frühzeitig sichtbar, aber die lokalen Optimierungsstrategien der einzelnen Institute haben das lange ignoriert.
Das heißt: Die systemischen Risiken von Finanzmärkten sind nicht ausreichend erforscht, und deshalb fehlen auch die richtigen Handlungsanweisungen?
So ist es. Man brauchte eine ganz andere Fragestellung der Forschung. Es gibt durchaus Physiker, die zu Banken gegangen sind, aber dort müssen auch sie wieder im Käfig der klassischen Ansätze operieren. Es sollte aber vielmehr um die Frage gehen, an welchem Punkt ein System in einen ganz anderen, ungewollten Modus rutschen kann. So wie ein magnetisches Stück Eisen, das beim Erwärmen plötzlich bei einer ganz bestimmten Temperatur seine Magnetkraft verliert. Wann genau dies passiert, kann das einzelne Atom nicht verstehen, weil es eine Systemeigenschaft des Zusammenwirkens aller Atome ist. Genauso nehme ich es vielen Bankmanagern ab, dass sie den Zeitpunkt und die Heftigkeit der Krise nicht vorhergesehen haben. Ein Einzelakteur in einem komplexen System kann das nicht überblicken. Selbst einfache Geldanlagestrategien können in ihrem Zusammenwirken in einem komplexen Netzwerk zu überraschenden Reaktionen führen.
Wenn Sie jetzt den Auftrag bekämen, die bestehende Weltfinanzordnung zu überprüfen, wie würden Sie als Wissenschaftler vorgehen? Gäbe es sofortige Handlungsanweisungen?
Wir haben derzeit ein System, in dem die Banken sich gegenseitig nicht mehr vertrauen und kein Geld mehr leihen. Diese Vorsicht gegenüber Risikobewertungen der anderen Institute ist verständlich, denn schließlich wurden Finanzprodukte als risikoarm bewertet, die aus vielen kleinen Derivaten zusammengesetzt waren, die aber mit einem hohen Risiko behaftet waren. Die Konsequenz daraus wäre zunächst einmal, die Risikoberechnungen und die Preisfindung auf einen sehr, sehr gründlichen Prüfstand zu stellen. Wenn man als Physiker ein Modell baut, dann wird extrem selektiert, welche Theorien dabei zur Anwendung kommen dürfen. Die Finanzwelt ist ein großes experimentelles System, in dem man durchaus strikt naturwissenschaftlich vorgehen kann, um Risikobewertungen zu verbessern. Dies würde nicht nur das Vertrauen zwischen den Finanzinstituten verbessern, sondern auch die Basis bilden, um die systemischen Risiken internationaler Finanzmärkte im Detail zu untersuchen.
Trauen sich Naturwissenschaftler denn zu, ihre eigenen komplexen Systeme vollständig zu verstehen, oder bleibt dabei immer ein gewisses Maß an Restunsicherheit? Und gilt das für die Finanzwelt nicht erst recht?
Bei einem komplexen System geht man in der Physik nicht so vor wie bei einem einfachen Laborexperiment. Deshalb zielt man auch nicht darauf, ein komplexes System genauso exakt vorherzusagen wie etwa die Wurfbahn eines Steines. Aber man kann ganz spezifische Phänomene eines komplexen Systems isolieren und beschreiben. Dabei hilft, dass man in einem solchen Modellbau auch viele Details vernachlässigen kann. Die Kunst besteht darin, die relevanten Details, wie zum Beispiel die Vernetzungsstruktur eines Systems, zu durchschauen, um damit zum Beispiel den Einsatzpunkt möglicher Lawinen vorherzusagen.
Wie bei der Vorhersage des Wetters?
Beim Wetter funktioniert die Modellierung nur unzulänglich, weil die Klimazusammenhänge so hoch komplex sind, dass langfristige Vorhersagen nie möglich sein werden. Den Brückenschlag zur Finanzwelt kann man aber zum Beispiel mit Magnetmodellen machen. Einzelne Teilchen ziehen sich gegenseitig an. Sie stehen für die Händler, die jeweils das machen, was andere Marktteilnehmer auch tun, bis eine neue Information auf den Markt kommt. Daraus lassen sich am Computer statistische Zeitreihen erstellen, die sich ganz ähnlich verhalten wie Zeitreihen von Aktienindizes. Diese Modelle liefern etwas, was klassische Gleichgewichtsmodelle nicht liefern können. Sie können zum Beispiel den Herdentrieb in einer Simulation abbilden. Und wenn man solche statistischen Eigenschaften von Gesamtsystemen versteht, dann kann man auch die Preismodelle und die Risikoabschätzung für einzelne Finanzprodukte verbessern.
Wenn Sie sich die bisherige Entwicklung der Finanzmarktkrise anschauen, graut es Ihnen da vor den nächsten Monaten?
Mich hat erstaunt und erfreut, wie schnell die Politik reagiert und die richtigen Kurzfristmaßnahmen ergriffen hat. Deshalb graut es mir überhaupt nicht vor 2009. Die zentrale Frage ist nun allerdings, wie man die nächste Krise verhindern kann.'
Das Gespräch führte Holger Paul.
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