Herr Christian Antweiler (Uni Bonn) versteht
“Anthropologie als umfassende Humanwissenschaft, die den ganzen Menschen und die Menschheit als ganze in den Blick nimmt”.
Meint er tatsächlich, die könne das?
Anthropologie ist doch zunächst nur einmal Zoologie. Wer sich gelegentlich mit Biologielehrern unterhält, stellt schnell fest, wie wenig die Biologielehrer auch nur die heimischen Tierchen kennen, der Holzbock etwa ist ihnen unbekannt, ebenso Neotrombicula autumnalis.
Ähnliches ist zu verzeichnen, wenn er mit Anthropologen über Neurowissenschaften spricht. Da geht es ums Eingemachte unter der Schädeldecke. Das Gefühlsleben der Primaten dürfte sich nicht wesentlich unterscheiden, wenn man Beobachtungen von außen Kredit geben will.
Anders sind die kognitiven Fähigkeiten zu beurteilen, weil sie in zahlreichen Produkten klar hervortreten. Allein die phänomenalen Gedächtnisbildungen heben den Menschen in eine völlig andere Bewußtseins- und Kultursphäre, die den großen Kreis der Wissenschaften ermöglicht. Hier bereits, beim menschlichen Zentralorgan, stößt der Anthropologe an seine Grenzen. Noch viel mehr, wenn es in den Bereich der Zeichensysteme und Kulturen geht.
Der Anthropologe und Ethnologe kann natürlich nützliche Daten und Bilder sammeln und in Büchern präsentieren, wie dies Irenäus Eibl-Eibesfeldt zeitlebens erfolgreich unternommen und in “Das verbindende Erbe. Expeditionen zu den Wurzeln unseres Verhaltens” gebündelt hat. Nicht nur mit den anderen Primaten verbindet den Europäer einiges, noch mehr mit den Yanomami oder Balinesen. Allerdings handelt es sich um basale Verhaltensweisen. Bis zum Corpus juris ist der Weg weit und komplex, vom römischen Recht zum BGB und Aktienrecht noch weiter.
Eine fruchtbare Hinterlassenschaft der Briten war in Indien das Englische als neue, überregionale Kommunikationsmöglichkeit und das britische Recht als neue Grundlage für überregionale Rechtssicherheit.
Das hinderte aber nicht, daß sofort nach der Unabhängigkeit Streit und Bürgerkrieg zwischen Hindus und mohammedanischen Indern ausbrachen, die zur Teilung des Landes in Indien, Pakistan und Bangladesch führten und bis heute zu feindlichen Spannungen.
Dieses Muster findet sich weltweit vielfach und anhaltend. Warum wollten die Perser die Griechen unterwerfen, warum eroberte Alexander der Grobe Persien? Warum überfallen heute jede Woche Hindus Christen, zünden Kirchen an und vertreiben ganze Dörfer? Warum geschieht Gleiches in Ägypten, Sudan, Kenia und Nigeria? Warum massakrieren sich Sunniten und Schiiten seit dem 7. Jahrhundert? Die Wurzel ist überall territoriales Machtstreben. Das kann der zoologisch gebildete Anthropologe erkennen, denn die Schimpansen verhalten sich genau so. Sie bilden aber keine komplexen Zeichensysteme aus, die die Traditionsweitergabe ermöglichen und die Kinder in diesen Sitten, Gebräuchen und kulturellen Phantasieprodukten, vulgo Religionen, sozialisieren. Zwar verstehen sich alle Kulturen als “katholisch”, als all-umfassend, doch ist das nur eine leere Behauptung, denn jede Lehre zeugt fortwährend Häretiker, die, soweit sie nicht getötet werden, wieder neue Häretiker hervorbringen.
Es scheint das ein kulturelles Grundgesetz zu sein, denn bisher gab es in der Geschichte keine Ausnahmen, weder bei religiösen noch bei säkularen Ideologien. Wie weit der “Prozeß der Zivilisation” (Norbert Elias) reichen wird, ist abzuwarten. Das Beispiel des zusammengebrochenen Jugoslawiens läßt vermuten, daß blutige Regressionen nie dauerhaft ausgeschlossen sind.
Die Anthropologie kann das nicht nur nicht ändern, sie kann nicht einmal erklären, warum dies so ist. Sie kann es nur konstatieren. Am ehesten könnte ein Verbund von Geschichte, Soziobiologie, empirischer Psychologie und Neurowissenschaften die Umstände der Neigung zur Regression klärend in den Blick nehmen.
Ob sie mehr herausfinden kann, als daß ein hoher Zivilisationsstand mit oder ohne Friedlichkeit nicht dauerhaft stabil ist, bleibt der Zukunft überlassen.
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