Dienstag, 29. Juli 2008

Zwangsheirat, Etzioni: Traditionsgesellschaften


Der tägliche ergiebige Schauer läßt den Boden nicht abtrocknen.

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- Necla Kelek: ' Muslimische Zwangsheirat. Freiheit jenseits der Gesetze? Hand in Hand gegen Zwangsheirat? Die islamische Community gerät nicht nur in dieser Frage, sondern auch bei sogenannten Ehrenmorden, Gewalt in der Ehe und der Erziehung durch die öffentliche Meinung unter Legitimationsdruck. Niemand nimmt ihren gebetsmühlenartig wiederholten Spruch „Das hat mit dem Islam nichts zu tun“ mehr ernst. Nun versucht der Vordenker eines „europäischen Islams“, Tariq Ramadan, die Sache für die Muslime zu wenden. Gemeinsam mit Rotterdamer Islamvereinen, dem Berliner, der Muslimbruderschaft nahen Verein „Inssan“ und mit der Unterstützung des Berliner Integrationsbeauftragten Günter Piening fördert er die Initiative „Hand in Hand gegen Zwangsheirat“. ... Lob der Großfamilie:
Interessant ist, wie Ramadan und seine Anhänger Familie definieren. Gemeint ist nicht eine Kernfamilie aus Mutter, Vater und Kindern, sondern die Großfamilie, der Stamm. So wird aus der Gemeinschaft der Muslime, der Umma, eine Familienkultur. In der Handreichung liest sich das so: „In einer Familienkultur ist die Familie wichtiger als das Individuum. Die Familie verhält sich als Einheit, um als Ganzes von den anderen Familien des sozialen Umfelds als voll- und gleichwertig anerkannt zu werden (...) Jedes Individuum hat im Interesse der Familie zu handeln.“ Und wenn nicht, so wird die Ehre der Familie verletzt: „In der Gruppe ist Ehre ein gemeinschaftlicher Besitz, für den alle Familienmitglieder Verantwortung tragen, ungeachtet der Hierarchieart in der Familie.“
Ramadan und seine Schüler versuchen, die Grundrechte und Werte der europäischen Zivilgesellschaft umzudeuten. Sie sprechen dem Einzelnen das Selbstbestimmungsrecht ab, definieren den Menschen als Sozialwesen und nicht als Individuum, befürworten das System der „Schamgesellschaft“ mit einem fatalen Ehrbegriff. Nirgendwo in dem Büchlein wird dem Einzelnen das Recht eingeräumt, selbst zu entscheiden, ob er überhaupt heiraten will. „Die Familie bildet den Kern der islamischen Gesellschaft, und die Ehe ist im Islam die einzige gestattete Weise, Familien zu gründen.“ Seine eigene Sexualität zu leben ist nicht statthaft. ' FAZ 29.7. //
Kelek verdient nicht nur Respekt für Ihre mutige Arbeit, fast muß man auch besorgen, daß ein zorniger frommer junger Mann im Sinne des Ramadan-Bruders Hani aktiv wird: " ... Hani Ramadan wurde schon 1997 von den Franzosen mit einem Einreiseverbot belegt. Er ist Lehrer in Genf, wo er das Islamische Zentrum leitet. Vor zwei Jahren hat Hani Ramadan in "Le Monde" das Steinigen von Ehebrecherinnen als "Reinigung" der Sünderinnen gerechtfertigt. Zögerlich ging "Frère Tariq" auf Distanz. Die jüngsten Veröffentlichungen weisen nach, daß das "Duett der Doppelzüngigen" keine Erfindung von Rassisten ist. Auch Tariq denkt insgeheim weitgehend so, wie sich Hani in der Öffentlichkeit äußert. ..."
MUSLIMISCHE BRÜDER: TARIQ UND HANI RAMADAN IM GEGENWIND, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.11.2004 . Die Betrauung Keleks mit der Leitung des Instituts für Türkeistudien wäre für die deutsche und die türkische Seite ein großer Gewinn.

- Etzioni : "Weniger ist mehr. Weil die Sicherheit des Westens auch am Hindukusch verteidigt wird, fehlt es gerade in Deutschland nicht an Appellen, Afghanistan mit noch mehr Geld wirtschaftlich und sozial auf die Beine zu helfen. Doch die Aussichten, dass eine Gesellschaft wie die Afghanistans innerhalb weniger Jahre aus dem Mittelalter in das 21. Jahrhundert katapultiert werden kann, sind gering. Ein Essay über Moral und Hypermoral.

... Doch trotz einer unter aufgeklärten Menschen weitverbreiteten Auffassung, dass Terrorismus mit Armut verknüpft und deshalb Entwicklung das beste Gegenmittel sei, beweist auch die jüngste Geschichte, dass beide nicht viel miteinander zu tun haben. ... Die Wortführer des Wiederaufbaus verschließen sich auch den schmerzhaften Lektionen, die die Geschichte der westlichen Entwicklungshilfe bereithält. Im Jahr 2006 zeigte ein ausführlicher Bericht über die vielen Milliarden Dollar, die von der Weltbank seit Mitte der neunziger Jahre für wirtschaftliche Entwicklung ausgegeben worden waren, dass sich das Pro-Kopf-Einkommen - einer der wichtigsten Entwicklungsindikatoren - trotz größter Bemühungen der Bank in vielen Ländern nicht erhöht hatte. In 14 von 25 Ländern, die in dem Bericht erfasst wurden, war das Pro-Kopf-Einkommen Anfang 2000 gleich oder niedriger als Mitte der neunziger Jahre. Darüber hinaus hatten sich jene Länder (besonders in Afrika), die die meiste Unterstützung erhielten, am wenigsten entwickelt, während die Länder, die nur geringe Unterstützung erhielten (besonders China, Singapur, Südkorea und Taiwan), sehr rasch vorankamen. Anderen Kritikern gilt Entwicklungshilfe als ein "vergiftetes Geschenk", da es die Abhängigkeit von ausländischen Mächten fördert, die einheimischen Bemühungen untergräbt und denjenigen am meisten nützt, die gut Anträge schreiben und Mitarbeitern von Stiftungen und Hilfsorganisationen charmieren können. ... Man kann einwenden, dass Reformen wie diese in anderen Ländern, einschließlich des Westens, Erfolg hatten. Tatsächlich könnten Sozialwissenschaftler den Entwicklungsländern einen großen Dienst erweisen, wenn sie eine gründliche Untersuchung darüber anstellten, wie Korruption und Misswirtschaft in jenen Ländern zurückgestutzt wurden, denen es gelang, diese Schwächen in den Griff zu bekommen. Eine solche Studie würde wahrscheinlich zu dem Ergebnis kommen, dass dieser Prozess Jahrzehnte, wenn nicht gar Generationen dauerte und mit einem beträchtlichen Wandel des Bildungswesens und der gesellschaftlichen Kräfte (etwa der Entstehung einer größeren Mittelschicht) einherging. Diese Veränderungen können nicht überstürzt werden und müssen weitgehend von innen heraus erfolgen.
Dasselbe gilt für die meisten anderen Erscheinungsformen in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Verhaltensweisen und Werte gelten seit Jahrhunderten und sind in der Tradition tief verwurzelt. Sie zu verändern ist ein langsamer und schwieriger Prozess, der in der Regel nicht von außen aufgezwungen, geschweige denn beschleunigt werden kann. ... Kultur ist ebenfalls ein Hauptgrund, der die erstaunlichen Unterschiede in der Überwindung sogenannter Unterentwicklung erklärt, besonders zwischen den südasiatischen "Tigern", die wenig Hilfe erhielten, und den afrikanischen und arabischen Staaten, in die viele Gelder geflossen sind. Ich vertrete ausdrücklich nicht die These, dass sich Letztere aufgrund genetisch bedingter Faktoren nicht weiterentwickeln könnten. Aber es ist offensichtlich, dass ihre Kulturen auf anderen Werten beruhen und sich vor allem auf traditionell-religiöse, lokale und stammesbedingte Bindungen stützen. Diese Kulturen können sich verändern, aber nur langsam, und der Wandel kann nicht von Außenstehenden beschleunigt werden. Das alles vorausgesetzt, muss man damit rechnen, dass der Wiederaufbau in Ländern wie Afghanistan sehr langsam vorangehen und allen Beteiligten sehr viel abverlangen wird. ..." F.A.Z.27. Juli 2008 // Allerdings gilt, daß Städte eine eigene Entwicklungsdynamik haben. Kabul und Kairo waren Berlin in den zwanziger Jahren sehr viel ähnlicher, als das 2001 der Fall ist.

Windkraftparks in der Nordsee

WINDKRAFT
Windkraftparks in der Nordsee

Im Artikel "Noch sind die Windfarmen vor den deutschen Küsten eine kühne Vision" (F.A.Z.-Wirtschaftsteil vom 10. Juli) wird ein realistisches Bild gezeichnet vom risikoreichen, politisch gewollten Bau der Offshore-Windkraftwerkparks in der Nordsee. Unter den vielen Problemen, die zu bewältigen sind, spielt das Netzproblem eine entscheidende Rolle, denn ohne ein leistungsfähiges und zuverlässiges Stromübertragungsnetz lassen sich keine Offshore-Windparks betreiben, es sei denn, man produziert kostspielig Wasserstoff. Verschärft wird dieses Netzproblem durch den geplanten Bau von Kohlekraftwerken an der Nordseeküste, deren voraussichtliche Betreiber als Konkurrenten der vier großen Energieversorgungsunternehmen auftreten und die hier mit dem Einsatz von Importkohle auf den kostenträchtigen Transport über Binnenwasserstraßen verzichten können.

Das Transportproblem landet dann beim Netzbetreiber. Als Ergebnis wird sich zwangsläufig ein gewaltiger Stromüberschuss in Norddeutschland einstellen, der auf ausreichende Strom-Übertragungsleitungen nach der Mitte und dem Süden Deutschlands angewiesen ist. Und hier liegt Handlungsbedarf vor, der laut einer Untersuchung der Deutschen Energie-Agentur (dena Netzstudie) den baldigen Neubau von 850 Kilometern Höchstspannungsleitungen erfordert. Technisch ist dies realisierbar, sowohl in bewährter Form als Freileitungen als auch zu vier- bis zehnmal höheren Kosten als Erdkabel, wobei die Erdkabelvariante zusätzliche Aufwendungen für die Blindleistungskompensation verursachen würde. Neue Stromtrassen bringen allerdings auch neue Schwierigkeiten. Nach heutiger Rechtslage werden sich Genehmigungsverfahren bis hin zu erwartenden Einsprüchen und Enteignungen über viele Jahre erstrecken.

Übergangen wird von Windkraftwerksbetreibern in der Regel auch das Thema Verluste der Übertragungsleitungen, die durchaus eine Größenordnung von drei Prozent pro hundert Kilometer Leitungslänge erreichen können und insbesondere auf großen Distanzen nicht vernachlässigt werden können. Dass Energieversorgungsunternehmen bei der Integration erneuerbarer Energien nicht nur Freude empfinden, ist ob der zu erwartenden Risiken und Kosten nur zu verständlich. Politiker haben es einfacher: Sie können sich schon bei der nächsten Wahl verabschieden.

Reginald Kraus, Mülheim an der Ruhr
Text: F.A.Z., 24.07.2008, Nr. 171 / Seite 17, Leserbrief

Phelps

Edmund S. Phelps 75 Jahre

Das Interesse für Wirtschaftsfragen war Edmund Strother Phelps quasi in die Wiege gelegt. Geboren 1933 im amerikanischen Bundesstaat Illinois, am Tiefpunkt der Großen Depression, die auch seinen Vater, einen studierten Ökonomen, wie viele Millionen andere arbeits- und mittellos machte, diskutierte Phelps schon als Junge am Familientisch über die Lage der Wirtschaft. Später studierte er an der Yale-Universität und wurde dort 1960 Dozent. In seinen frühen Arbeiten beschäftigte er sich mit der angeblich zu geringen Sparquote in Amerika und entwickelte eine Theorie der optimalen Spar- und Investitionsquote, die über die Generationen den wirtschaftlichen Nutzen maximieren soll: Als "Golden Rule" firmiert sie noch heute in vielen Lehrbüchern.

In den späten sechziger Jahren gehörte Phelps zu jenen, die frontal angingen gegen die von Keynesianern vertretene These, dass mit höherer Inflation ein Abbau der Arbeitslosigkeit erkauft werden könne. Phelps widerlegte - gleichzeitig, aber unabhängig von Milton Friedman - die sogenannte Phillips-Kurve, wonach eine Wahlmöglichkeit zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit bestehe. Entscheidend seien die Erwartungen der Wirtschaftssubjekte, daher funktioniere plumpe keynesianische Konjunktursteuerung durch stärkere "effektive Nachfrage" nicht, erklärte Phelps, wenn die Unternehmen bereits voraussehen, dass die Preise und Löhne schneller steigen.

Die in den siebziger Jahren in allen westlichen Industrieländern grassierende Stagflation - eine Mischung aus hoher Inflation und hoher Arbeitslosigkeit - lieferte den empirischen Beweis für seine Thesen. 2006 wurde Phelps für seine "Analyse intertemporaler Zielkonflikte in der makroökonomischen Politik" der Nobelpreis verliehen.

Phelps, der von 1971 an in New York an der Columbia-Universität lehrte, kennt Europa von mehreren Gastprofessuren, etwa in Mannheim, Florenz und Paris. Die hier im Vergleich zu Amerika höhere und hartnäckigere Arbeitslosigkeit führte er auf eine übermäßige Regulierung des Arbeitsmarktes zurück. So bezeichnete er es vor dem Hintergrund der "sehr beängstigenden demographischen Zukunftsaussichten Europas" als "ein Wunder, dass es unter solchen Bedingungen in Deutschland und in Frankreich überhaupt noch Investitionen gibt". Die ganze Wirtschaftsordnung Europas müsse radikal reformiert werden. Angesichts des Aufschwungs der vergangenen Jahre erscheint sein Pessimismus übertrieben.

Bedenkenswert bleibt jedoch die Kritik Phelps', dass in Europa eine grundsätzlich "unternehmerfeindliche" Einstellung vorherrsche. Als Leiter des 2001 gegründeten "Center on Capitalism and Society"untersucht er den Zusammenhang von kulturellen Werten, Einstellungen und wirtschaftlichem Erfolg. Er ist nicht nur Ökonom, sondern auch Kunst- und Opernliebhaber und singt selbst gelegentlich. Obwohl er vieles in Europa kritisch sieht, weiß er doch die europäische Küche zu schätzen. Seine Sommerurlaube verbringt Phelps mit seiner Frau, einer gebürtigen Argentinierin und Simultanübersetzerin, meist in Italien. Am Samstag feiert er seinen 75. Geburtstag. ppl.

Text: F.A.Z., 26.07.2008, Nr. 173 / Seite 16