Dienstag, 25. Februar 2020
Bertrand Russell: Ein liberaler Dekalog
Bertrand Russell: Ein liberaler Dekalog
1. Fühle dich keiner Sache völlig gewiß.
Das gilt immer und in allen Bereichen! Die Irrtumsmöglichkeiten sind außerordentlich zahlreich, eine Einschätzung, die einen Gegenstand annähernd richtig erfaßt, gelingt eher selten. Bei Russel ist die erste Regel die Quintessenz seiner Erkenntnistheorie und auch seiner persönlichen Erfahrung. Der Liberale ist Skeptiker und die dadurch gewonnene Distanz ermöglicht bessere Erkenntnismöglichkeiten.
2. Trachte nicht danach, Fakten zu verheimlichen, denn sie kommen eines Tages bestimmt ans Licht. (Bertrand Russell: Ein liberaler Dekalog)
Das ist nicht so einfach zu befolgen. Für die Selbsterkenntnis gilt diese Aufforderung uneingeschränkt. Ebenso für die Politik und die Wissenschaft.
3. Versuche niemals, jemanden am selbständigen Denken zu hindern; es könnte dir gelingen. (Bertrand Russell: Ein liberaler Dekalog)
Ein einfacher Satz, ein schier unlösbares Problem. Auch die Meinungsdressur gelingt als primitivste Form der Erziehungsdiktatur sehr oft. Das hat man bei Pimpfen und Hitlerjugend, bei den Jungen Pionieren und der FDJ gesehen. Diese Beeinflussung hält oft lebenslang. Joachim Fest und seine Familie haben sich entzogen (vgl. Fest, “Ego non”), Angela Merkel hat bei der totalitären FDJ mitgemacht. Russell wendet sich mit seiner Aufforderung an eine Person mit meinungsbildender Kraft - Lehrer zum Beispiel -, nicht zu indoktrinieren. Eine Maxime, der nur ein liberaler Skeptiker und Optimist tatsächlich folgen kann. Kants Imperativ ‘Denke selbst, habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen’ (vgl. Kant, “Was ist Aufklärung?”) steht bei Russell im Hintergrund.
4. Wenn dir jemand widerspricht, und sei es dein Ehegatte oder dein Kind, bemühe dich, ihm mit Argumenten zu begegnen und nicht mit der Autorität, denn ein Sieg durch Autorität ist unrealistisch und illusionär. (Bertrand Russell: Ein liberaler Dekalog)
Argumente, Argumente. Sie sind die Fackeln in der Finsternis der Gefühle. Argumente können schwach sein, aber sie zeigen auf, daß etwas anders sein könnte. Immer kann etwas anders sein. Und immer gibt es Irrtümer. Argumente öffnen einen Fragehorizont und können auf Gründe hinweisen. Typisch ist dafür der Kausalsatz mit “weil”: Ich mißtraue jeder Regierung, weil Macht verführen kann. Zu Autoritätsmißbrauch. Die Autorität behauptet etwas und sagt: basta! So wie die CO2-Apokalyptiker. Argumente wollen sie nicht hören. Wer argumentiert, gilt ihnen als Leugner. Sie entziehen sich der Argumentation, sie wollen glauben, sie wollen Forschungsgelder und neue Mitarbeiter, sie wollen Geld verdienen mit Windmühlen und Solarbrettern. Mal sehen, wie das ausgeht. Ein vorläufiger Sieg durch Autorität ist leider nicht unrealistisch und nicht illusionär.
Regel 4 klingt ein bißchen abstrakt verbogen. Eine Schwäche bei vielen Philosophen und Naturwissenschaftlern ist die fehlende empirische Entwicklungspsychologie, wie sie etwa Jean Piaget, Bernhard Hassenstein und Remo Largo vertreten. Russell scheint mir überhaupt völlig psychologiefrei zu sein, ein schwerwiegender Mangel. Die Formulierung “und sei es dein Ehegatte oder dein Kind” kann man ebenfalls nur als grotesk einstufen. Ich schlage daher folgende Änderung der 4. Regel vor:
4. Wenn dir jemand widerspricht, bemühe dich, ihm mit Argumenten zu begegnen, die dem Verstehenshorizont des Gegenübers angepaßt sind und beginne einen Dialog. Glaube jedoch nicht, daß in jedem Fall Einsicht und Konsens erreichbar sind. Daher können auch klare Verhaltensvorgaben mit Sanktionsmacht notwendig sein, wenn gefährliche Grenzüberschreitungen drohen. Erziehung allein auf Einsicht und Freiheit zu gründen, führt zu Desorientierung und Verhaltensverwahrlosung. Bereits bei Kleinkindern kann sich aggressives Verhalten chronifizieren, das andere Kinder gefährdet und eine asoziale Karriere der Gewaltkinder vorbereiten kann.
5. Habe keinen Respekt vor der Autorität anderer, denn es gibt in jedem Falle auch Autoritäten, die anderer Ansicht sind.
- Die Autorität stiftet Vertrauen und vermittelt ein Sicherheitsgefühl. Der Glaube an die Autorität ist stammesgeschichtlich kodiert und geht einher mit der Lebenserfahrung des Kindes, daß nur die Eltern das Überleben des Kindes ermöglichen. Von da aus überträgt sich der Autoritätsglaube auf Familien-, Klan- und Stammesführer bis hin zu Priestern, Päpsten und Kaisern. Nichts wurde in der gesamten Geschichte individuell und gesellschaftlich mehr mißbraucht als der Autoritätsglaube. Nachdem die Kirchen weitgehend an Autorität verloren haben erleben wir heute, daß auch die Institution Wissenschaft sich in großem Stil durch völlig unglaubwürdige, religiös gefärbte Klimaprognosen infrage stellt.
6. Unterdrücke nie mit Gewalt Überzeugungen, die du für verderblich hältst, sonst unterdrücken diese Überzeugungen dich. Bertrand Russell: Ein liberaler Dekalog
Überzeugungen lassen sich nur mit Überzeugungen - im Dialog - bekämpfen. Durch Argumente. Der Erfolg ist dabei nicht garantiert. Gewalt ruft dagegen leicht Gegengewalt hervor. Eine Gewaltspirale kann entstehen. Allerdings geht es nicht nur um Argumente, sondern auch um Lernen. Die mit Gewalt im Gefängnis festgehaltenen Kriminellen sollen Kriminalität verlernen. Die Phantasiepsychologie der freudianisch inspirierten Therapien sind wirkungslos wie es die Psychoanalyse im zivilen Leben ist. Ein Tokensystem (H.-J. Eysenck u.a.) zeigt Einfluß.
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