Samstag, 17. Oktober 2015

Locarno 1925





Schmidt-Chefdolmetscher


Im Januar 1923 hatte Poincare das Ruhrgebiet besetzt, beflügelt von seinem nachhaltigen antideutschen Furor. Im Sommer 1923 befand sich die Ruhrgebietskrise auf dem Höhepunkt. 1924 gelang es in London, eine Entschärfung einzuleiten. Doch die Umsetzung der Londoner Beschlüsse blieb noch 1925 schwierig. Der Dolmetscher Paul Schmidt notierte in seinen Erinnerungen “Statist auf diplomatischer Bühne 1923-1945” 1925 in Koblenz:
“Mit der Zigarette zwischen den Lippen blickten uns unsere französischen und belgischen Gesprächspartner mit eisiger Ablehnung an, und auch die Engländer verhielten sich nicht viel freundlicher. Es war ein eigenartiges Gefühl für mich, im eigenen Lande von Ausländern als unerwünschter, höchstens geduldeter Gast behandelt zu werden, wenn ich mit den übrigen Delegierten das von den Besatzungsbehörden in Koblenz zum Verhandlungsort bestimmte Gebäude des Oberpräsidiums betrat.” 
(A.a.O., S. 69)
Kaum glaublich, daß es dann im Oktober 1925 - vor 90 Jahren - den Außenministern Austen Chamberlain, Briand und Stresemann gelang, den Vertrag von Locarno zu erreichen. Elsaß-Lothringen blieb Besitzstand Frankreichs, eine Ausdehnung der französischen Grenze nach Osten unterblieb, die französischen und belgischen Truppen räumten Rhein und Ruhr, das Rheinland blieb demilitarisiert.

Die Kriegsschuldfrage hatte noch einmal eine unrühmliche Rolle gespielt, konnte aber umschifft werden. Für die deutsche Linke spielt sie immer noch eine große Rolle, daher eine kleine Erinnerung:

Statt der ‘Gesellschaft’ alle Schuld in die Schuhe zu schieben, wollen wir doch die Politiker und ihre Kumpane benennen, die maßgeblich einen gefährlichen Weg einschlugen, von dem sie mangels Weitblick und Vorstellungsvermögen nicht ahnten, wohin er 1914 führen könnte: Delcasse, Poincare, Pasic, Paleologue, Sasonow, Kriwoschein, Nikolaus II., Suchomlinow, Paul Cambon, Grey, Churchill, Henry Wilson. Wilhelm II. und Franz Joseph waren eher Getriebene, wobei Wien nach dem entsetzlichen serbischen Doppelmord in Sarajewo allerdings den Fehler des Ultimatums an den serbischen Kriegstreiber Pasic beging. Ohne russische Anstachelung wär der serbische Präsident Pasic allerdings auf das Ultimatum eingegangen.) Im Dreibund war es dann an Deutschland, Wien beizustehen. (Näheres s. Clark, Schlafwandler)

Nach dem Krieg, von dem alle angenommen hatten, daß er kurz ausfallen würde, wäre dann ein normaler Friedensschluß ohne ausufernde französische Schikanen nötig gewesen. Der amerikanische Präsident Woodrow Wilson hätte ihn gegen Paris erzwingen müssen.

Vorher bereits standen Grey und Poincare in der Pflicht, zur Verkürzung des Krieges beizutragen. Dazu der Historiker Hans Fenske in der Rezension von Hans-Christoph Kraus (FAZ, 30.09.2014):

“Vor dem Krieg ist nach dem Krieg
Alliierte lehnten Friedensgespräche mit Mittelmächten ab

Am Beginn des düsteren vierten Kriegswinters 1917/18 erschien im "Daily Telegraph" ein "Brief an den Herausgeber", in dem es hieß: "Wir stehen jetzt im vierten Jahr des fürchterlichsten Krieges, den die Welt je erlebt hat, eines Krieges, in dem die Toten nur nach Millionen gezählt werden können. [. . .] Die Minister verharren darin, uns zu erzählen, dass sie vergeblich den Horizont nach einer Aussicht auf dauernden Frieden absuchen." Der frühere konservative Außenminister Lord Lansdowne, der am 29. November 1917 dieses Schreiben veröffentlichte und sich damit zu denjenigen bekannte, "die mit Schrecken einer Verlängerung des Krieges entgegenblicken, die glauben, dass seine mutwillige Verlängerung ein Verbrechen sein würde", forderte eine sofortige Aufnahme von Friedensverhandlungen mit Deutschland. Der Berliner Regierung solle zugesichert werden, so Lansdowne weiter, "dass wir nicht die Vernichtung Deutschlands als Großmacht wünschen" und "dass wir seinem Volk keinerlei andere Regierungsform aufzuerlegen suchen, als es sich selbst wählt". Diese mutige Aktion hatte nur ein Ergebnis: Sie kostete Lansdowne sein Ansehen und seine Stellung in der britischen Politik.

Die Frage, ob ein früherer Friedensschluss tatsächlich möglich gewesen wäre, um den zunehmend mörderischer werdenden, Millionen Menschenleben verschlingenden Krieg zu beenden, ist später of diskutiert worden. Hans Fenske stellt die Frage in seinem knappen, engagiert geschriebenen Büchlein aufs Neue, und er bejaht sie entschieden. Er weist nochmals darauf hin, dass es nur die "Mittelmächte" Deutschland und Österreich-Ungarn waren, die mehrfach nach Möglichkeiten suchten, den Krieg durch eine Verständigung beider Seiten zu beenden, doch "die Alliierten verweigerten [. . . ] jedes Gespräch über einen Friedensschluss. Diese beharrliche Ablehnung eines Ausgleichs, dieses Setzen auf einen Sieg ohne jede Kompromissbereitschaft war die erste entscheidende Weichenstellung in der Epoche der Weltkriege, es war der Anfang vom Ende des alten Europa." Hätten sich die Alliierten, so Fenske weiter, "auf das Friedensangebot der Mittelmächte vom Dezember 1916 oder das wenig spätere Vermittlungsangebot des amerikanischen Präsidenten eingelassen, so wäre ein weitaus gerechteres Friedenswerk zustande gekommen als das von 1919/20".
(Hans Fenske: "Der Anfang vom Ende des alten Europa." Die alliierte Verweigerung von Friedensgesprächen 1914-1919. Olzog Verlag, München 2013. 144 S., 19,90 [Euro])