Mittwoch, 24. Juni 2009
Schmuddelkind, Calvin
Sommer! 22°C S
- Die Grasmücke oder das "Müllerchen" treibt es nicht nur in der Stadt, sie durchdringt auch mit ihrer Ratterstrophe, auf einer Antenne über den Dächern, den lebhaften Großstadtverkehr.
- Von der SA zum SDS : Ist der Hang zum Totalitären, Fanatischen, Radikalen etwas Teutsches?
"Ein Schmuddelkind
Richard David Precht erzählt jetzt auch im Fernsehen, warum Lenin nur bis Lüdenscheid kam.
Als Richard David Precht noch ein Kind ist, schüren die meisten Eltern die Angst vor dem schwarzen Mann. Bei Prechts in Solingen ist zwar Provinz, aber trotzdem alles anders. Was anderswo richtig ist, ist hier falsch und das Falsche richtig, so sieht es wenigstens das Kind. Man ist progressiv, aber gegen den technischen Fortschritt, weil es eben der falsche Fortschritt ist. Die Konservativen dagegen sind für den technischen Fortschritt, also schon irgendwie progressiv, aber jedenfalls und überhaupt im falschen Sinn.
Die Eltern Precht sind links, stehen erst der DKP, später den Grünen nahe. Ihre fünf Sprösslinge, zu denen zwei Adoptivkinder aus Vietnam gehören, bereiten sie auf eine Gesellschaft vor, die nie kommen wird - und richten dabei im Kopf des kleinen Richard große Verwirrung an. Andere Naturen in derselben Situation hätten die Zeitläufte der vergangenen Jahrzehnte, besonders aber den Untergang der Sowjetunion und die Auflösung der DDR wohl nur nachhaltig deprimiert überstanden. Im Fall des Philosophen und Erfolgsautors Precht ("Wer bin ich? Und wenn ja, wie viele?" und "Liebe. Ein unordentliches Gefühl") jedoch sortieren sich die Merkwürdigkeiten der stramm ideologischen Erziehung spätestens nach dem Fall der Mauer zu der fundamentalironischen Welthaltung, die aus jedem der Befunde seiner Kindheitsautobiographie "Lenin kam nur bis Lüdenscheid" spricht.
"Als ich Kind war, dachte ich, dass alle Amerikaner böse sind, mit Ausnahme der Neger." Sommer 1968 ist das Kind drei Jahre alt. "Wenn ich laufe, soll ich rufen: Ho-Ho-Ho-Tschi-Minh." Dann läuft es sich besser und schneller, sagt die Mutter. So weit, so gut. Widersprüchlichkeiten aber gibt es daheim zuhauf. Im Prinzip darf zwar jedes der Kinder, antiautoritärer Erziehungsmaxime folgend, machen, was es will, tatsächlich allerdings sind viele Dinge untersagt. Hygiene gilt als repressiv, weshalb Zähne nicht geputzt und die nach Fischkot stinkenden Becher zum Reinigen der Aquarien verwendet werden. Coca-Cola und Comics sind verpönt - bis auf Asterix, weil da die Römer (wie die Amerikaner) als Besatzungsmacht auftreten und von den Galliern ständig vorgeführt werden. "Schmuddelkinder" seien sie, schärfen die Eltern den Kindern ein, weshalb der Garderobenbesuch nach dem Konzert des Liedermachers Franz Josef Degenhardt obligatorisch ist.
Auch der launige Dokumentarfilm nach Prechts Buch arbeitet mit dem Prinzip der großen Verwirrung durch gleichzeitige Präsentation höchst unterschiedlichen Bilderbogenmaterials. Allerbanalstes, dem Kind gleichwohl unendlich wichtig Erscheinendes, und gesellschaftspolitisch Brisantes stehen direkt nebeneinander. Seine Unterhaltsamkeit verdankt "Lenin kam nur bis Lüdenscheid" daneben Prechts Kommentar, der den Film als Voice-Over mit einer Erzählerstimme begleitet, die an Armin aus der "Sendung mit der Maus" erinnert. En passant wird das Rätsel beantwortet, warum die Prechts damals nicht rübergegangen sind. Vater Hans-Jürgen, der im Film ausgiebig über seine damalige Weltsicht berichtet, war Formgestalter - und als solcher in der DDR überflüssig. "Wahrscheinlich braucht man da keine Designer - weil alles schon so schön und ordentlich ist", denkt das Kind im naiven Schulterschluss mit den Linken, die zu dieser Zeit den Genossenkreis seiner Eltern bilden.
Schön und ordentlich und ein wenig nostalgisch ist vor allem der idyllische Schluss der für den deutschen Fernsehpreis nominierten Dokumentation, wenn sich die inzwischen in alle Winde verstreuten Familienmitglieder zum trauten Festmahl im dänischen Ferienhaus treffen. Dass sich die Mutter Precht, die zum ersten Mal in historischer Distanz ins Bild kommt, im Film als Einzige nicht aufklärend äußern wollte, ist allerdings wirklich schade - womöglich aber auch höchst bezeichnend. HEIKE HUPERTZ
Lenin kam nur bis Lüdenscheid lief im Ersten. F.A.Z., 23.06.2009 //
Der Hang zum Totalitären, Fanatischen, Radikalen ist etwas Archaisches, das alle Religionen und "Sekularreligionen" pflegen oder gepflegt haben. Es ist eine Weiterung des Kausalitätsprinzips, das das Gehirn pausenlos in allen Phänomenen sucht und, bei seiner sehr beschränkten Aufnahmefähigkeit, oft unzulässig annimmt. Der Hominide vermutet in Blitz und Donner Jupiter oder Rumpelstilzchen so wie manche Physiker komplexe Wettererscheinungen monokausal mit dem guten CO2 in Verbindung bringen (bei den meisten Physikern dieser Art handelt es sich aber wohl nur um einen Geldeinwerbetrick).
- Je unfaßbarer die Phänomene, desto größer die Lust zur Differenz, denn jeder gute Prophet findet natürlich andere, bessere, reinrassigere, kausalere, heiligere, radikalere Ursachen: "Reformation der Reformation.
Ein Tag im Leben Calvins in Genf und einige Jahrhunderte im Zeichen des neuen Glaubens in Berlin
13. Juni 2009, Neue Zürcher Zeitung
Zwei sehr unterschiedliche Ausstellungen, eine in Genf, eine andere in Berlin, rücken Calvin und den Calvinismus, aus Anlass des 500. Geburtstages des Reformators, in den Blick. Uwe Justus Wenzel
Als Mitte des 16. Jahrhunderts in London Anhänger der neuen Konfession sich auf ihn namentlich beriefen, bat Jean Calvin die Glaubensgenossen in einem Brief, «aus mir kein Idol zu machen und aus Genf keine Art Jerusalem». Ein Bild des Reformators haben sich indes schon damals viele gemacht, seine Widersacher nicht weniger als seine Anhänger. Schmähbilder und Respekt bezeugende Porträts sind in grosser Zahl entstanden. Das Bedürfnis der sichtbaren Vergegenwärtigung einer historischen Gestalt will offenbar auch heutigentags, zumal im Jahr des fünfhundertsten Geburtstages Calvins, befriedigt sein. Ein Reformator aus dem Labor
Das noch junge Genfer Reformationsmuseum versucht den Bilderhunger sogar auf der Höhe der Zeit und mit avancierter Technologie zu stillen. Es hat die örtliche Universität, genauer: das auf Computersimulationen und «mixed reality» spezialisierte Laboratorium «Miralab», um Hilfe gebeten. Virtuell und dreidimensional, historisch korrekt gewandet und sprechend zeigt sich nun der bärtige Mann, den manche als «Ajatollah von Genf» verunglimpfen, in mehreren Kopien dem Besucher. Der beinahe Leibhaftige tut dies in «Pavillons» genannten Guckkästen, die ein wenig an Kasperletheater erinnern; nicht in allen allerdings ist die Virtualität elektronischer Natur. Acht Boxen sind es an der Zahl; in ebenso viele Etappen gliedert sich «Une journée dans la vie de Calvin». Zwischen Morgengebet (vier Uhr) und Abendmeditation (einundzwanzig Uhr) gibt es an einem sozusagen idealen Tag im Leben des arbeitsamen, glaubensfesten und sittenstrengen Geistlichen einiges zu tun.
Calvin predigt um sieben in der Kathedrale Saint-Pierre (über das Buch Hiob); um neun spricht er mit dem seiner Hinrichtung auf dem Scheiterhaufen entgegensehenden «Häretiker» Michel Servet und versucht, nicht recht überzeugend, seine Hände in Unschuld zu waschen; um elf waltet er seines Amtes als Präsident des Konsistoriums, das über die Sitten der Gemeindemitglieder wacht und an diesem Tag die renitente Tochter eines Kaufmanns zur Rede stellt, die das allgemeine Tanzverbot missachtet haben soll (worauf drei Tage Gefängnis stünden); um vierzehn Uhr beginnt Calvins Vorlesung am Kolleg, in dem der Priesternachwuchs ausgebildet wird; um sechzehn Uhr erblickt man den «Netzwerker» am Schreibtisch, den Briefeschreiber, der europaweit korrespondiert; um achtzehn Uhr nimmt er im Freundeskreis das – seiner Migräne und seines schwachen Magens wegen nicht allzu üppige – Nachtessen ein. Der Tag endet für Calvin in der Zwiesprache mit seinem Schöpfer – und nicht ohne dass er noch einmal sein in fortdauernder Überarbeitung begriffenes Hauptwerk, die «Institutio christianae religionis», wohlgefällig zur Hand genommen hätte.
Ein Reformator im europäischen Kontext
Die – nicht erst heute – befremdende Seite des Reformators wird offenkundig nicht ausgeblendet; vielleicht schleicht sich sogar etwas Ironie ein in die Genfer Installationen. Aber das Ganze bleibt gleichwohl recht blass; und dies nicht so sehr, weil die – gewiss raffiniert erzeugte – Trickfigur, in der Calvin wiederaufersteht, farblos, grau in grau, gezeichnet ist. Der Gehalt des Dargebotenen ist schlicht zu schlicht für eine Sonderausstellung im Jubiläumsjahr und im Herzen der Reformation. Das vermag der hübsch gestaltete Katalog, mangels weiterführender Erläuterungen, nicht zu kompensieren. So droht aus dem «Calvin für alle», den die Ausstellung zeigen zu wollen scheint, einer für keinen zu werden. Die Räume und die historischen Bestände des Musée international de la Réforme immerhin sorgen dafür, dass der Besucher seine Reise nach Genf nicht bereut.
Auch das Reformationsdenkmal, das wahrlich monumentale Genfer Monument, zu dem der Grundstein 1909, im Jahr des vierhundertsten Geburtstages des französischstämmigen Glaubensflüchtlings Jean Calvin, gelegt worden ist, gewinnt – im Vergleich mit den animierten Pixeln in den Guckkästen – an historischer Substanz. An der Genfer «Mauer der Reformatoren» liest die weit ausgreifende Calvinismus-Ausstellung des Deutschen Historischen Museums in Berlin (in die auch Exponate aus Genfer Beständen Eingang gefunden haben) ihren Auftrag ab. Wie deren Kuratoren, Ansgar Reiss und Sabine Witt, erklären, soll die Schau tun, was das Genfer Denkmal, das Calvin in eine Reihe mit seinen Mitstreitern Guillaume Farel, Theodor Beza und John Knox stellt und ihn nur unmerklich hervorhebt, auf seine Weise auch tut: das Wirken Calvins in die gesamte reformatorische Bewegung einbetten. Die Strahlkraft des französischen Reformators, der auch – vielleicht nicht ganz so stark wie Luther die deutsche – die französische Sprache belebt hat, reichte bis nach Schottland, Polen, Ungarn und Siebenbürgen.
«Die Reformierten in Deutschland und Europa», wie der Untertitel der Berliner Ausstellung lautet, ist auch insofern das ergänzende Gegenstück zu derjenigen in Genf, als sie – klassisch – auf die Macht der Dinge, die Aussagekraft der historischen Zeugnisse also, und auf die Aura der Vitrinen vertraut. Klassisch darf man freilich auch die – unvermeidliche – Mühe nennen, die geschichtlich Unbewanderten es bereiten dürfte, der Fülle des Gezeigten einen Überblick und den Details ihre Bedeutung abzugewinnen. Wer sich vor dem Rundgang durch die acht Abteilungen den bilder- und lehrreichen, mit einführenden Texten wie mit hintergründigen Aufsätzen aus der Feder ausgewiesener Fachleute gut bestückten Katalog zu Gemüte führte, hätte gewiss mehr von der Expedition in Zeiten und Räume, Kulturen und Glaubenswelten, die heute selbst manchen Reformierten fern sein dürften. – Im Raum der Vorgeschichte («Glaubensunruhe») weist eines der ersten Ausstellungsstücke einen Weg, der voller Blutspuren ist: eine Streitaxt der Hussiten aus dem 15. Jahrhundert, in die der Kelch für die Laienkommunion eingraviert ist – das Symbol der Anhänger des böhmischen Kirchenkritikers Jan Hus, der auf dem Konzil von Konstanz 1415 den Flammentod erlitt. Mit derlei Äxten setzten sich die aufständischen Hussiten gegen die Ritterheere des Papstes zur Wehr. Drei Abteilungen und bald zwei Jahrhunderte später sticht ein Richtschwert ins Auge, mit dem der kursächsische Kanzler Nikolaus Krell am 9. Oktober 1601 vom Leben zum Tode befördert wurde. Krell gehörte zu den Calvinisten, mit denen sein ursprünglich lutherischer Landesherr sympathisierte. Nach dessen Tod gewann die lutherische Orthodoxie die Oberhand – was Krell schliesslich das Leben kostete.
Permanente Reformation
Der Spaltpilz hat in der Christentumsgeschichte zu unzähligen – oft gewaltsamen – Zellteilungen geführt. Auch die Calvinisten selbst, zumal in den Niederlanden, wurden untereinander uneins. Die Spaltungen und die politisch-militärischen Allianzen, die Europa im Zeitalter der Konfessionalisierung prägten, bilden einen Schwerpunkt der Ausstellung. Deutlich wird an einigen Stellen, dass sich, jedenfalls in deutschen Landen, die Anhänger Calvins als Reformatoren der – lutherischen – Reformation, als deren Vollender begriffen. Fast alle Territorien, deren Fürsten sich dem Calvinismus öffneten, waren – worauf Eike Wolgast in einem instruktiven Essay im Katalog hinweist – zuvor vom Luthertum geprägt gewesen. Was die reformierte Theologie für Territorialherren anziehend erscheinen liess, so noch einmal Wolgast, sei wohl «die grössere Rationalität sowohl in der Dogmatik als auch im praktischen Vollzug» gewesen. Den Untertanen scheint diese Rationalität nur selten sofort eingeleuchtet zu haben, auch deswegen wohl, weil sie mit einer «Entemotionalisierung» des Gottesdienstes einherging. Es kam immer wieder zu Volksaufständen gegen die Einführung des reformierten Bekenntnisses, aber – natürlich – auch zur Opposition vonseiten lutherischer Geistlicher. Volksbildnerische Arbeit war mithin allenthalben zu leisten, um den neuen Glauben in die Seelen zu pflanzen.
Aber für die, die das Bekenntnis abgelegt hatten und in einer «calvinistischen» Welt lebten, war die Arbeit noch nicht zu Ende. Die Reformation der Reformierten ist eine permanente und günstigenfalls eine Selbstreformation, wie die «Kirchenzucht» erkennen lässt. Bei Ehestreitigkeiten sah sie – in Bern und anderswo – mitunter vor, die verkrachten Eheleute in eine Zelle zu sperren, wo sie aus einer gemeinsamen Schüssel ihr Essen löffeln und so lange bleiben mussten, bis sie sich versöhnt hatten.
Une journée dans la vie de Calvin. Musée international de la Réforme, Genf. Bis 1. November 2009. Calvinismus. Die Reformierten in Deutschland und Europa. Deutsches historisches Museum, Berlin. Bis 19. Juli 2009. Der gleichnamige Katalog (Sandstein-Verlag) kostet in der Ausstellung € 25.– und im Buchhandel € 48.–. // Wanderer, kommst Du nach Berlin oder Genf, bringe mir bitte einen Katalog mit.
- "The improver of natural knowledge absolutely refuses
to acknowledge authority, as such. For him, scepticism
is the highest of duties; blind faith the one unpardonable sin."
Thomas H. Huxley
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