Der Rückblick des französischen Politologen und Soziologen, auch auf Henry Kissinger. Erschien 1983.
"Es ist durchaus wahr und eine ... Grundtatsache aller Geschichte, daß das schließliche Resultat politischen Handelns oft: nein, geradezu regelmäßig, in völlig unadäquatem, oft in geradezu paradoxem Verhältnis zu seinem ursprünglichen Sinn steht."
(Max Weber, 'Politik als Beruf', Reclamausg. S. 64f. )
Unter dieser Prämisse steht jede Politik, natürlich auch und besonders die Außenpolitik. Die Putinisten von links und rechts reichen derzeit gerne ein Zitat herum:
»Die Ukraine, ein neues und wichtiges Feld auf dem eurasischen Schachbrett, stellt einen geopolitischen Dreh- und Angelpunkt dar, denn schon seine alleinige Existenz als unabhängiges Land trägt dazu bei, Russland zu verwandeln. Ohne die Ukraine ist Russland kein eurasisches Reich mehr … Wenn Moskau allerdings die Kontrolle über die Ukraine mit ihren 52 Millionen Menschen und wichtigen Rohstoffen sowie dem Zugang zum Schwarzen Meer zurückgewönne, würde Russland automatisch wieder in die Lage versetzt, ein mächtiger imperialer Staat zu werden, der sich über Europa und Asien erstreckt.« (Brzeziński, The Grand Chessboard: American Primacy and Its Geostrategic Imperatives, 1998)
“Rußland verwandeln”? Gute Idee. Seit Jahrhunderten herrschten dort Zarismus und Diktatur. Als letztes Land schaffte Rußland die Leibeigenschaft ab, um gleich danach einer totalitären Diktatur anheimzufallen. Von der Putin als KGBler geprägt wurde und die ihm mit ihrem Freiheitsdefizit kein Problem war. Denn er verfolgte im Dienst selbst Dissidenten. Damals. Und heute auch. Und immer mehr. Eine freie Ukraine bedeutet daher eine Gefahr für die “Demokratur” Putins. Der russische Schriftsteller Wladimir Sorokin sieht Rußland bereits schwanger mit neuem Geist:
“Gastbeitrag von Wladimir Sorokin Die Ukraine ist in uns eingedrungen
In Russlands riesigem Leib regt sich neues Leben: die freie Ukraine. Was macht das Reich nun mit dieser ungewollten Schwangerschaft?” (FAZ 21.7.14)
Diese Entwicklung spricht nicht gegen Brzezińskis Vorstellungen. Doch sie klingen allzu mechanisch. 1997 erschien Bill Gates’ “Der Weg nach vorn. Die Zukunft der Informationsgesellschaft.” Darin kommt das Internet nur am Rande vor. Bei Brzeziński gar nicht. Er hat allerdings die Bedeutung von Information und Kommunikation als wichtig veranschlagt, wie das Engagement für “Radio Free Europe” zeigt. Doch die geometrische Kommunikationsexplosion, die das Internet ermöglichte, kommen lokale und regionale Akteure in einem Ausmaß ins Spiel, wie sich das Brzeziński vermutlich nicht vorstellen konnte. Dadurch wird der alte Vergleich der Außenpolitik mit dem Schachspiel noch unzulänglicher. Im Schach gibt es zwar sehr viele Konstellationsmöglichkeiten, doch sind die Regeln sehr simpel: ein Bauer kann nur 2 Bewegungsarten vollziehen - ein “Bauer” im Internet aber sehr viele. Ein Geheimdienthäuptling hat fast unendlich viele Möglichkeiten im Vergleich zu einer simplen Schach-Dame. Putin nutzt sie, und er wird von keiner Seite kontrolliert, außer vom Westen. Zwar kann man die Weltakteure immer noch mit Schachspielern vergleichen, aber dieser Vergleich hinkt nicht nur, wie alle Vergleiche, er suggeriert auch die simplen Spielbedingungen des Schach: alles bleibt dort relativ überschaubar, einer wird gewinnen, oder es endet mit einem Remis. Im Weltkonkurrenzspiel gibt es nicht nur zahllose Spielzüge, es können auch alle verlieren. Hätte sich etwa die “Weltrevolution” durchgesetzt, wären alle die Verlierer gewesen, so wie die Osteuropäer unter der Herrschaft der KPdSU jahrzehntelang alle Verlierer waren. Freiheitliche Außenpolitik setzt auf die Erweiterung der Freiheitsspielräume der lokalen und regionalen Akteure und auf internationale Verrechtlichung. Dabei gibt es viele Irrtumsmöglichkeiten.
Was war zu tun, als Chomeini von Frankreich aus den Sturz des persischen Schahs betrieb?
Vor drei Tagen bezeichnete Brzeziński in einem Interview mit Fareed Zakaria auf CNN die israelische Gaza-Aktion als falsch, weil sie Israel international isoliere. Natürlich kann man das so sehen. Aber besuchte der ägyptische Präsident Sadat nicht nach dem Jom-Kippur-Krieg von 1973 in einer Friedensinitiative, eingeleitet von Kissinger, 1977 Jerusalem? Solche Tricks gibt es beim Schach nicht, solche Überraschungen sind nur in der Außenpolitik möglich, wenn Meister auch noch viel Glück haben. Oder wenn überhaupt der Zufall Regie führt und zwei Figuren wie Reagan und Gorbatschow zusammentreffen, und nicht zwei Betonköpfe (vgl. James G. Wilson, „The Triumph of Improvisation“).