Samstag, 9. Februar 2019
Lob der Mitte bei Aristoteles
Die Vorstellung der Schichtung einer Gesellschaft ist den Bodenschichten als Metapher entnommen. In der Anschauung der Gesellschaft sieht man nur Menschen und Gruppen. Von ihnen geht Aristoteles aus in seiner Betrachtung und Analyse der athenischen Polis:
“Denn wenn der von uns in der Ethik aufgestellte Grundsatz zu Recht besteht, daß das glückliche Leben ein Leben gemäß unbehinderter Tugend und die Tugend eine Mitte ist, so muß das mittlere Leben das beste sein, ein Leben, sagen wir, in einer Mitte, die für jeden zu erreichen ist. Diese nämlichen Bestimmungen müssen aber, wie für die Tugend und Schlechtigkeit eines Staates, so auch für die einer Verfassung gelten, da die Verfassung (1295b) wie ein Leben des
Staates ist. In allen Staaten nun gibt es drei Klassen von Bürgern: sehr reiche, sehr arme und drittens solche, die zwischen beiden in der Mitte stehen. Da also die Voraussetzung gilt, daß das Gemäßigte und das Mittlere das beste ist, so sieht man, daß auch in bezug auf die Vermögensverhältnisse der mittlere Besitz von allen der beste ist; ein solcher Vermögensstand gehorcht am leichtesten der Vernunft. Dagegen fällt es dem übermäßig Schönen oder dem übermäßig Starken oder dem Manne von sehr edler Geburt oder dem übermäßig Reichen und denen, die das Gegenteil von ihnen sind, dem übermäßig Armen oder übermäßig Schwachen oder dem sehr Niedrigen und Verachteten schwer, der Vernunft zu folgen. Jene werden mehr übermütig und schlecht im großen, diese allzu tückisch und schlecht im kleinen, und Übermut auf der einen und Tücke auf der anderen Seite sind es ja, woraus alle ungerechten Taten entspringen. Ferner sind sie die schlechtesten Mitglieder im Gemeindekollegium und im Senat, was beides die Staaten schädigt. Zudem besitzen diejenigen, die sich eines Übermaßes von Glücksgütern, von Stärke, Reichtum, Anhang und dergleichen mehr, erfreuen, weder Neigung noch Einsicht dazu, anderen zu gehorchen — und das haftet ihnen schon von Haus aus als Kindern an; denn verzärtelt, wie sie sind, können sie sich nicht einmal in der Schule an Gehorsam gewöhnen —; umgekehrt sind
diejenigen, die an diesen Dingen übermäßigen Mangel leiden, allzu unterwürfig. Und so können die einen nicht herrschen und nur in sklavischer Weise gehorchen, und die anderen können keiner Art von Herrschaft gehorchen und selbst nur in despotischer Weise herrschen. Das gibt nun einen Staat von Knechten und Herren, aber nicht von Freien, einen Staat, wo die einen beneiden, die anderen verachten, und so einen Zustand, der zu Freundschaft und staatlicher Gemeinschaft im größten Gegensätze steht. Gemeinschaft ist Freundschaft; mit Feinden mag man nicht einmal den Weg teilen. Nun will aber ein Staat möglichst aus gleichen und ähnlichen Bürgern bestehen, und das findet sich am meisten bei dem Mittelständen, und so muß der Staat die beste Verfassung haben, der eine solche Zusammensetzung hat, wie sie nach unserer Darlegung die Natur des Staates fordert. Auch ist in den Staaten die Existenz dieser Art Bürger am meisten gesichert. Sie begehren weder selbst nach fremdem Gute wie die Armen, noch begehren andere nach ihrem Besitze, wie die Armen nach dem der Reichen. Und so bringen sie, weil sie weder den anderen nachstellen, noch andere ihnen, ungefährdet ihre Tage zu. Darum hatte Phokylides recht mit seinem Wunsche:
Viel Bestes hat der Mittelstand, Zu ihm möcht’ ich im Staat gehören.
Es liegt mithin am Tage, daß auch die Gemeinschaft, die sich auf den Mittelstand gründet, die beste ist, und daß solche Staaten sich in der Möglichkeit befinden, eine gute Verfassung zu haben, in denen eben der Mittelstand zahlreich vertreten ist und womöglich die beiden anderen Klassen, oder doch eine von ihnen an Stärke übertrifft. Denn auf welche Seite er sich wirft, nach der gibt er den Ausschlag und verhindert das Aufkommen der entgegengesetzten Extreme. Daher ist es das größte Glück, wenn die Bürger eines Staates ein mittleres und ausreichendes Vermögen haben, weil da, (1296a) wo die einen sehr viel besitzen und die anderen nichts, wegen dieses beiderseitigen Übermaßes entweder die extremste Demokratie oder reine, ungemischte Oligarchie oder Tyrannis entsteht. Denn die Tyrannis entsteht ebensogut aus der zügellosesten Demokratie als aus der Oligarchie, dagegen aus der Herrschaft des Mittelstandes und der sozial beinahe gleichgestellten Klassen weit weniger. Die Ursache davon werden wir später in den Erörterungen über die Umwandlung der Staatsformen angeben.”
Aristoteles. Politik. 11. Kap. Pos. 2538. Kindle-Version.
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