NZZ 3.1.15 - Hominidenmentalität
Gründliche Einsicht
Ein Mensch sah jedesmal noch klar:
Nichts ist geblieben so, wie's war.
Woraus er ziemlich leicht ermißt:
Es bleibt auch nichts so, wie's grad ist.
Ja, heut schon denkt er, unbeirrt:
Nichts wird so bleiben, wie's sein wird.
Eugen Roth, Für Lebenskünstler
Aber was bedeutet schon Einsicht. Die vitalen Triebe durchbrechen leicht jede Einsicht, die ohnehin bei den meisten nur eine dunkle Ahnung ist. So erzählte ein Techniker von seinen Jahren in Tansania, die er dort mit seiner Familie an der Küste verbrachte, daß er bestens mit den fast ausschließlich mohammedanischen Nachbarn ausgekommen sei. Möglicherweise habe geholfen, daß er als Zen-Buddhist nicht so ganz ernst genommen worden wäre. Eines Tages aber störte die Kunde des Todesurteils gegen Salman Rushdie wegen Verunglimpfung des Islams die guten Beziehungen, denn die Nachbarn, die meisten hatten in Europa studiert, äußerten sich zustimmend zum Mullah-Urteil und gaben an, daß sie Rushdie lynchen würden, fiele er ihnen in die Hände.
So ist das mit der Tradition. Sie klebt an den Sohlen und verklebt das Großhirn, wo die Einsicht ihren Sitz hat, wenn sie überhaupt vorhanden ist. Und es gibt Religionen, Ideologien und Denkfiguren (“Reinigung durch Weltenbrand”, “Götterdämmerung”), die die Steinzeitmentalität der Hominiden bewahren und gegen jede Einsicht abschirmen. Conditio humana.