Mittwoch, 4. August 2010

Ach, wir Armen







- Ach, wir Armen: "In Geldwerten gemessen kann heute ein einzelner Sozialhilfeempfänger in etwas genauso so viel ausgeben wie ein durchschnittlicher Vier-Personen-Arbeitnehmerhaushalt in den 1950er Jahren", so der Wirtschaftshistoriker Toni Pierenkemper von der Universität Köln in seinem Buch WIRTSCHAFTSGESCHICHTE (Rez. FAZ 2.8.10) : "Die Mehrheit der heute über Fünfzigjährigen ist demnach in Haushalten aufgewachsen, die nach heutigen Maßstäben ,Armenhaushalte' waren."

Ich kann's bestätigen, ich bin noch mit Margarine und billiger Marmelade in Vaters alten Schuhen großgeworden. Die Marmelade schmeckte mir, denn in der SED-Diktatur gab es nicht einmal die, jedenfalls kann ich mich nur an Margarineaufstrich erinnern.
Zu keiner Zeit kam mir der Gedanke der Armut, auch späterhin nicht, als es im ersten Lehrjahr 80,- Mark monatlich gab und ich ein kleines Zimmerchen mit Bett und Waschbecken im Kolpinghaus bewohnte. Beim Bezug der ersten 1-Zimmer-Wohnung auf einem notdürftig umgebauten Trockenboden fühlten wir uns prima, sie wurde mit Möbeln vom Sperrmüll eingerichtet. Reich waren wir wahrlich nicht, aber es tutete einem niemand ins Ohr, daß man arm sei und daß das schlecht sei.
Noch niemand hatte die statistische Armutsgrenze von 60% des Durchschnittseinkommens erfunden, das blieb den heutigen Statistikschwindlern überlassen, die auch die "Globaltemperatur" und mancherlei mehr ersonnen haben. Im Rückblick könnten einmal unsere Tage als die Epoche des Statistikschwindels benannt werden.
Aber wer weiß, ob so viel Urteilsvermögen in der europäischen Zukunft noch zu erwarten ist.

Goethe allerdings wird recht behalten:

Und auf vorgeschriebenen Bahnen
Zieht die Menge durch die Flur;
Den entrollten Lügenfahnen
Folgen alle. - Schafsnatur!

Goethe, Faust 2, IV. Auf dem Vorgebirg, V. 10403ff.