Mittwoch, 30. September 2009

Flucht in die Prager Botschaft aus der Diktatur Honeckers, Gysis und Biskys, Leben mit Missilen und Megatonnen



Flucht in die Prager Botschaft aus der Diktatur Honeckers, Gysis und Biskys

- "Genscher auf dem Balkon, Jubel im Garten

Prag, auf dem Balkon des Palais Lobkowicz, 30. September 1989, 18.55 Uhr. Die schönste und kürzeste Rede, die je ein deutscher Politiker gehalten hat, bestand aus einem knappen Satz, und nicht einmal den konnte Hans-Dietrich Genscher zu Ende sagen: "Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise..." - der Rest ging unter im Jubel der rund 5000 DDR-Flüchtlinge, die auf dem Gelände der deutschen Botschaft in Prag wochenlang campiert hatten. In diesen Wochen hatten Genscher und der christlich-demokratische Kanzleramtschef Rudolf Seiters mit Ost-Berlin und Moskau um eine Lösung des Flüchtlingsproblems gerungen, bis der sowjetische Außenminister Eduard Schewardnadse und DDR-Außenminister Oskar Fischer endlich ihre Zustimmung gaben. Die DDR-Führung wollte sie damals noch als einmalige humanitäre Geste verstanden haben. Nach dem Paneuropa-Picknick an der ungarisch-österreichischen Grenze, bei dem Mitte August 1989 unter den Augen der ungarischen Grenzschützer einige hundert DDR-Flüchtlinge über die Grenze nach Österreich gingen, war dies aber bereits die zweite große Bresche im Eisernen Vorhang. Sechs Wochen später fiel die Mauer.

Genscher und Seiters traten am Mittwoch in Prag wieder gemeinsam auf den Balkon des Palais Lobkowicz, während eines feierlichen Empfangs, zu dem Sachsens Ministerpräsident Tillich und die deutsche Botschaft ehemalige Botschaftsflüchtlinge und ihre deutschen und tschechischen Helfer geladen hatten. Unter den Gästen war auch der tschechische Präsident Václav Klaus. Genscher verband die Erinnerung an die Ereignisse von damals mit aktuellen Fragen. Er sagte, jeder in der Tschechischen Republik möge die Bedeutung des Lissabon-Vertrages zur Kenntnis nehmen, der für die Funktionsfähigkeit der EU unverzichtbar sei. (kps.)" FAZ

- "Leben mit Missilen und Megatonnen
Der Wunsch nach Abschaffung nuklearer Waffen ist illusorisch, ja geradezu riskant. Das Proliferationsproblem wird nicht dadurch gelöst, dass die Supermächte ihre Arsenale abbauen. Von Jürg Dedial

In diesen Tagen steht die Öffentlichkeit unter dem Eindruck diverser Anstrengungen, mit denen die Welt sicherer gemacht werden soll. Im Rahmen der Uno-Generalversammlung ist es zu einer Reihe von Vorschlägen gekommen, wie die nuklearen Arsenale verkleinert werden könnten und wie jene Reibungsflächen, an denen latente Zerstörungskräfte zerren, zu entschärfen wären. Es ist, als hätten im Zeitalter des globalen Terrors und der Klimadebatte plötzlich die klassischen strategischen Überlebensfragen aus der Zeit des Kalten Krieges wieder Hochkonjunktur. Entsprechend keimen alte und neue Hoffnungen auf. Und es ist kaum ein Zufall, dass diese Erwartungen mit dem Namen Barack Obama verbunden sind.
Keiner wird nachgeben

Es war Obama selbst, der diese Bewegung ausgelöst hat. Im April überraschte er in Prag die Öffentlichkeit mit der Ankündigung, Amerika wolle alles tun, um die Nuklearwaffen aus der Welt zu schaffen. Der Anlass war nicht ungeschickt gewählt, denn Anfang Dezember läuft der Start-I-Vertrag aus, unter dessen Vorgaben die beiden atomaren Supermächte einst ihre Arsenale reduziert hatten. Das Argument, dass sie beide noch immer zu viele Sprengköpfe einlagerten, ist nur schwer zu entkräften. Nukleare Abschreckung funktioniert auch mit wesentlich weniger dieser extrem teuren Waffen, weshalb weitere Reduktionen durchaus sinnvoll sind.
Dass dies aber ein erster Schritt zu einer Welt ohne Nuklearwaffen sein könnte, wie Obama suggerierte, ist eine gefährliche Illusion, ja gleichsam eine atomare Lebenslüge. Die Ratio eines solchen Schrittes wäre ja, dass die andern Atommächte und jene Länder, die an der Herstellung von derartigen Waffen arbeiten, durch eine Vorleistung der Supermächte eher zu einem Verzicht auf ihre Sprengköpfe bereit wären. Nichts, weder eine konkrete Erfahrung noch ein vertieftes Denkmodell, kann diese Annahme untermauern. Es ist nicht ersichtlich, wie Länder wie Israel, das die Bombe hat, oder Iran, der mit allen Mitteln an ihrer Beschaffung arbeitet, zur Aufgabe ihrer Programme bewogen werden könnten.
Der politische Hebelarm solcher Megawaffen ist derart enorm, dass niemand mehr dieses potenzielle Druckmittel freiwillig aus der Hand gibt. Kommt hinzu, dass sich das Wissen um die Funktionsweise atomarer Sprengsätze nicht mehr auslöschen lässt. Die nukleare Proliferation begann, noch ehe im Juli 1945 die erste Bombe in der Wüste von New Mexico zusammengebaut war. Bereits damals waren die entscheidenden Kenntnisse an die Sowjetunion verraten worden. Als hätte es eines Beweises dieser Tatsache bedurft, weigerte sich Stalin nur ein Jahr später, die amerikanische Initiative zur Unterstellung sämtlicher Nuklearwaffen unter die Aufsicht der Uno, den sogenannten Baruch-Plan, zu unterstützen. Dieser Plan war ein einzigartiger Versuch, den nuklearen Geist zurück in die Flasche zu verbannen. Aber die Sowjetunion schlug das Angebot in den Wind. Und im Schatten der beiden Grossmacht-Rivalen zogen andere Länder nach.
An dieser Sachlage hat sich bis heute nichts geändert. Der Gedanke an eine Welt ohne Nuklearwaffen ist verlockend, führt aber im Ringen um eine atomare Rüstungskontrolle nicht weiter. Er kann und darf nicht als Basis für praktische Versuche dienen, die Verbreitung von technischem Know-how und nuklearem Baumaterial zu unterbinden. Im Gegenteil. Es spricht nicht wenig dafür, dass eine massive Abrüstung der USA und Russlands unter mittleren Ländern, die sich bisher unter den Nuklearschirmen der Grossen einigermassen kommod eingerichtet hatten, eine eigentliche Rüstungsspirale auslösen könnte. Das Problem liegt nicht bei den Waffen der grossen Atomstaaten, sondern in der Tatsache, dass zwei von ihnen bis heute nicht bereit sind, ein wirklich rigoroses Sanktionsregime gegen nukleare Risikoländer mitzutragen. Russland und China haben sich als veritable Proliferations-Paten gegenüber Iran, Pakistan und Nordkorea betätigt – und tun es noch immer. Solange sich dies nicht ändert, führen neue Aufrufe zu tiefen Einschnitten ins Leere.
Eine andere Illusion umgibt die unlängst von Obama verfügte Einstellung des geplanten Raketenabwehr-Dispositivs in Osteuropa. Bei diesem Projekt ging es um weit weniger abstrakte Begriffe als im nuklearen Bereich. Den USA war daran gelegen, ein allfälliges strategisches Risiko aus dem Mittleren Osten, namentlich Iran, ins Kalkül einzubeziehen. Für die osteuropäischen Länder waren diese Pläne eine hochpolitische Angelegenheit, gerade weil Russland unablässig und wider jeglichen Sachverstand eine Bedrohung seiner Sicherheit an die Wand malte. In Westeuropa hingegen fanden diese Störmanöver, wie schon so oft, reichlich Anklang. So wurde Obamas heikler Rückzug, der an keine entsprechenden Konzessionen Russlands geknüpft worden ist, in Berlin, Brüssel oder Paris denn auch enthusiastisch als Auftakt zu einem neuen Verhältnis mit Moskau gefeiert.
Trügerische Hoffnungen

Nichts könnte trügerischer sein als das, denn auch bei der Raketenabwehr lauern Risiken, die ob der verbreiteten Erleichterung in Westeuropa zu wenig beachtet werden. Der Gedanke, anfliegende Missile zu bekämpfen, ist angesichts der enormen weltweiten Proliferation solcher Waffen nichts als logisch. Abwehrmassnahmen werden eine immer wichtigere Rolle spielen müssen – und können. In Europa hat man dies noch nicht wirklich begriffen. Einzig die Amerikaner verfolgen konsequent den Aufbau einer umfassenden Raketenabwehr, wobei ihnen in manchen Bereichen ein grosser technischer Vorsprung zustatten kommt. Hier liegt auch der Grund für das russische Sperrfeuer. Was aber geschieht, wenn die USA in nächster Zeit tatsächlich damit beginnen, kleinere, mobile und bereits erprobte Abwehrmissile kürzerer Reichweite in Osteuropa und im Mittelmeerraum zu stationieren, wie sie es offeriert haben? Dann wird der russische Kanonendonner erst recht losgehen, nur viel stärker und noch drohender. Denn im Gegensatz zum abgeblasenen Projekt in Polen sind diese Abwehrwaffen sehr wohl gegen russische Raketen kurzer und mittlerer Reichweite einsetzbar. Es drohte in diesem Fall eine echte Konfrontation, und in den westeuropäischen Kapitalen müsste man sich einmal mehr eingestehen, die Lage vollkommen falsch eingeschätzt zu haben. Wunschdenken allein reicht nicht aus, um eine langfristig angelegte, zielführende Sicherheitspolitik zu betreiben. Atomwaffen sind eine Realität, und in ihr brisantes Umfeld gehört immer mehr auch eine wirkungsvolle Raketenabwehr. Ohne Berücksichtigung dieser Realität wird die Welt nicht sicherer werden." 26. September 2009, Neue Zürcher Zeitung