Albrecht von Haller (1668-1748), Anatom, Botaniker und Wissenschaftspublizist; zudem Calvinist.
“Der Erste Weltkrieg, war, wie Sie zeigen, alles andere als unvermeidlich. Warum ließen sich alle Beteiligten dennoch in ihn hineinziehen?
- Weil alle das Narrativ der Unvermeidlichkeit für sich akzeptierten. Ein weiterer Faktor ist, dass die Ententemächte stark unter Druck sind. Im Sommer 1914 spielen die Briten mit der Idee, die anglo-russische Konvention von 1907 im Folgejahr auslaufen zu lassen und sie durch eine Art Verständigung mit Berlin zu ersetzen. Die Briten waren durch die deutsche Flottenrüstung viel weniger beunruhigt, als immer behauptet wird. Von 1908 an ist klar, dass das Deutsche Reich den Rüstungswettlauf auf den Meeren verloren hat. Umso genauer beobachten die Briten die russische, amerikanische und japanische Flotte.”
Das Narrativ der Unvermeidlichkeit. (Lat. narrare - erzählen) Was der australische Historiker Christopher Clark hier im Interview anspricht (“Alle diese Staaten waren Bösewichte“, FAZ 23.9.13), scheint mir der Kern der Problematik von 1914 zu sein. Darüberhinaus aber auch der Kern aller Erkenntnisbedingung. Erkenntnis ist ein langer Vorgang, und meist ist es wirklich nur ein Narrativ. Eine Erzählung. Die Sonne kreise um die Erde, war so ein Narrativ. Der Rhein sei die natürliche Grenze Frankreichs, das war jahrhundertelang ein historisches Narrativ, immer wieder Deutschland anzugreifen. Historische und außenpolitische Betrachtungen folgen besonders gern besonders einfach gestrickten Narrativen. Dort können die Folgen sehr schlimm sein. Aber Narrative beherrschen überall das Feld. Und selbst in den Naturwissenschaften kommt nicht alle Tage ein Galilei daher, der den aristotelischen Unsinn kritisch nachmißt und dekonstruiert. Viel schwieriger ist das in den Geistes- und Sozialwissenschaften, deren Methoden den Moden folgen. Dabei wäre es ganz einfach: Jedem Narrativ stehe die Prämisse voran, daß alles, was gesagt wird, auch anders gesagt werden kann. (Luhmann) Und die Präambel hat schon Lichtenberg formuliert: “Wir irren allesamt. Nur jeder irret anders.”
Lichtenberg übernahm diese Formulierung von seinem Schweizer Kollegen Albrecht von Haller aus dessen Lehrgedicht “Die Alpen”; dort heißt es recht eindrucksvoll:
Wir irren allesamt, nur jeder irret anderst.
So wie, wann das Gesicht gefärbtem Glase traut,
Ein jeder, was er sieht, mit fremden Farben schaut;
Nur sieht der eine falb und jener etwas gelber;
Der eine wird verführt, und der verführt sich selber;
Der glaubt an ein Gedicht und jener eignem Tand;
Den macht die Tummheit irr und den zuviel Verstand;
Der hofft ein künftig Glück und lebt darum nicht besser;
Und jenes Unglück wird durch seine Tugend größer;
Der Pöbel ist nicht weis', und Weise sind nicht klug;
Soweit die Welt sich streckt, herrscht Elend und Betrug:
Nur daß der eine still, der andre rasend glaubet,
Der sich allein die Ruh und jener andern raubet.
Und:
Der Pöbel hat sich nie zu denken unterwunden,
Er sucht die Wahrheit nicht und hat sie doch gefunden;
Sein eigner Beifall ist sein bündigster Beweis,
Er glaubet kräftiger, je weniger er weiß.
Ihm wird der Weiseste zu schwache Stricke legen,
Er spricht ein trotzig Ja und löst sich mit dem Degen.
So kommen dann auch allerhand Kriege zustande.