Samstag, 10. März 2018
Durkheim verwechselte nicht Soziologie mit Sozialismus
Durkheim verwendet nicht den christlich derangierten Begriff “Selbstmord”, sondern er spricht von SUIZID, also Selbsttötung. So auch die neuere Forschung, vgl. zB S.O. Becker, L. Wößmann, Knocking on Heaven’s Door? Protestantism and Suicide, 2011. (Social Cohesion, Religious Beliefs, and the Effect of Protestantism on Suicide)
Becker und Wößmann greifen auf preußisches Datenmaterial aus dem 19. Jahrhundert zurück und finden bei Protestanten eine Suizidrate von 18,4 je 100.000 Einwohner, bei Katholiken nur eine von 6,5. Das ist ein bemerkenswerter Unterschied, der vermutlich mit der Subjektivierung im Protestantismus zu tun hat und mit dem protestantischen Schuldkult, der für einzelne Menschen in Konfliktsituationen eine Überlastung bedeuten kann.
In den heutigen säkularen Gesellschaften dürften anomische Motivationen eine größere Rolle spielen, und natürlich der Freitod wegen Krankheit und Alter.
“In Le suicide untersucht Durkheim verschiedene Hypothesen zu den unterschiedlichen Suizidraten von Katholiken und Protestanten. Er benutzt hierzu empirische Daten aus verschiedenen Quellen, vor allem aus Moralstatistiken von Adolph Wagner oder Henry Morselli (1852–1929) und untersucht Korrelationen mit unterschiedlichen Parametern, der konfessionellen Zugehörigkeit, dem Berufs- und Vermögensstand der Betroffenen bis hin zum Wetter, zur Jahreszeit und zur Wirtschaftssituation des Landes. Er erklärt die niedrigere Selbsttötungsrate bei Katholiken durch die stärkere soziale Kontrolle und die stärkere soziale Integration. In den Quellen waren die Ergebnisse mit größerer Zurückhaltung dargestellt worden. Außerdem war der Unterschied zwischen den Konfessionen nur in den deutschsprachigen Gebieten Mitteleuropas beobachtbar und kann seinerseits Ausdruck anderer Faktoren gewesen sein. Durkheims Ergebnisse waren:
- Die Selbsttötungsrate bei Männern ist höher als bei Frauen. Verheiratete Frauen, die über einen längeren Zeitraum kinderlos blieben, hatten jedoch höhere Werte.
- Singles haben eine höhere Rate als Verheiratete.
- Kinderlose Ehepaare zeigen eine höhere Rate als Familien.
- Protestanten haben eine höhere Rate als Katholiken und Juden.
- Soldaten zeigen eine höhere Rate als Zivilisten.
- In Friedenszeiten ist die Zahl der Selbsttötungen höher als im Krieg.
- In skandinavischen Ländern zeigt sich eine höhere Rate als sonst in Europa.
- Die Wahrscheinlichkeit der Selbsttötung wächst mit dem Bildungsgrad. Die Korrelation mit der Religion ist aber stärker.
In diesem Zusammenhang entwickelt er den Begriff der Anomie, die er als Situation definiert, in der Verwirrung über soziale und/oder moralische Normen herrscht, weil diese unklar oder überhaupt nicht vorhanden sind. Dies führt nach Durkheim zu abweichendem Verhalten. Durkheim nennt in diesem Zusammenhang drei Grundtypen (Idealtypen) des Suizids: die egoistische, die anomische und die altruistische Selbsttötung. Nur in einer Fußnote erwähnt Durkheim einen vierten Typ, die fatalistische Selbsttötung. Der egoistische Selbstmord ist Ausdruck der mangelnden Integration in eine Gemeinschaft, also das Ergebnis einer Schwächung der sozialen Bindungen des Individuums. Als Beispiel führt Durkheim Unverheiratete an, besonders Männer, die in höherer Zahl Selbstmord begehen als Verheiratete.
Altruistische Selbsttötung ist demgegenüber Ausdruck einer zu starken Bindung an Gruppennormen. Dies findet er vor allem in Gesellschaften, in denen die Bedürfnisse des Einzelnen dem Ziel der Gemeinschaft untergeordnet sind.
Anomische Selbsttötung spiegelt die moralische Verwirrung des Individuums wider, seinen Mangel an gesellschaftlicher Orientierung, oft verbunden mit dramatischem sozialem und ökonomischem Wandel. Er ist die Folge moralischer Deregulierung und fehlender Definition legitimer Ziele durch eine soziale Ethik, die dem Bewusstsein des Einzelnen Sinn und Ordnung vermitteln könnte. Es fehlt hier nach Durkheim vor allem eine wirtschaftliche Entwicklung, die soziale Solidarität produziert. Die Menschen wissen nicht, wo ihr Platz in der Gesellschaft ist. In der entsprechenden moralischen Desorientierung kennen die Menschen nicht mehr die Grenzen ihrer Bedürfnisse und befinden sich in einem Dauerzustand der Enttäuschung. Dies geschieht vor allem bei drastischen Veränderungen der materiellen Bedingungen der Existenz, wirtschaftlicher Ruin oder auch plötzlicher unerwarteter Reichtum: Durch beides werden bisherige Lebenserwartungen infrage gestellt und neue Orientierungen werden erforderlich, bevor die neue Situation und ihre Grenzen richtig eingeschätzt werden können.
Fatalistische Selbsttötung ist das Gegenteil des anomischen. Hier ist ein Mensch in extremem Maße eingeschränkt und erfährt seine Zukunft als vorbestimmt, seine Bedürfnisse werden erstickt. Dies geschieht in geschlossenen und repressiven Gruppen, in denen Menschen den Tod dem Weiterleben unter den gegebenen und nicht zu verändernden Bedingungen vorziehen. Als Beispiel führt Durkheim Gefängnisinsassen an.
Alle vier Typen von Selbsttötung basieren auf hohen Graden von Ungleichgewicht zwischen zwei gesellschaftlichen Kräften: Integration und moralischer Regulierung. Durkheim berücksichtigte bei seiner Untersuchung die Wirkungen von Krisen auf soziale Gefüge, zum Beispiel den Krieg als Ursache für vermehrten Altruismus, wirtschaftlichen Aufschwung oder Depression als Ursache verstärkter Anomie.” Wiki.
Foto: Wiki.
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