Freitag, 11. Juli 2008

Dem Klima geht's prima!

Dem Klima geht's prima!
07. Juli 2008 Auf dem Cover des Buchs "Frohe Botschaften" von Dirk Maxeiner und Michael Miersch spaziert ein griesgrämig dreinblickender Herr mit Brille und Anzug einen Sandstrand entlang. Zwei splitternackte Damen kommen ihm entgegen, doch für diese Wesen interessiert sich der Mann überhaupt nicht. Er trägt ein Plakat vor sich her, auf dem in schwarzen Lettern "The end is in sight" steht. Die Welt, schleudert uns dieser Mann entgegen, droht unterzugehen, und wohin man auch schaut, auf Moral und Anstand wird sowieso längst gepfiffen.

Zu Schwarzmalern dieser Sorte zählen die Journalisten Maxeiner und Miersch natürlich nicht ("Frohe Botschaften". Dirk Maxeiner & Michael Miersch über den alltäglichen Wahnsinn. Verlag Wolf Jobst Siedler jr., Berlin 2008. 208 S., geb., 18,- [Euro]). Die beiden Journalisten halten, so liest man, Zukunftsoptimismus nicht für eine Geisteskrankheit und schauen selbst hoffnungsfroh nach vorne, denn was sie da sehen, ist viel Licht und sehr wenig Schatten. Das ist nicht immer so gewesen. Anfang der neunziger Jahre leiteten die zwei nämlich das deutsche Umweltmagazin "Nature" und publizierten eine Katastrophenstory nach der anderen. Und die Umweltpessimisten zeigten sich hoch zufrieden, fühlten sie sich doch in all ihren Befürchtungen bestätigt. Erst starb der Wald (das begann schon in den Achtzigern), dann starben die Robben, bald folgten das Insekten- und das Vogelsterben, und sogar ein Spermiensterben schien sich anzukündigen. Dem schlimmstmöglichen Szenario wollte man ins Auge sehen, das zeugt schließlich von kritischem Bewusstsein, der Rest ist Traumtänzerei.

Die vorhergesagten Katastrophen mochten allerdings nicht eintreten. Hinzu kam, dass Maxeiners und Mierschs Recherchen dem gewohnten Klagelied immer häufiger die Melodie verweigerten. Und so erkannten die Redakteure: "Die Welt wird besser. Ob Krieg, Hunger, Analphabetentum, politische Unterdrückung oder Umweltverschmutzung: Alle großen Übel dieser Welt schrumpfen erfreulicherweise schon seit längerem." Es blieb den Zukunftsfrohen nichts anderes übrig, als das Magazin zu verlassen und fortan ihre Zuversicht zu zelebrieren (unter anderem in dem Buch "Öko-Optimismus"). Das tun Maxeiner und Miersch nun auch in dem amüsanten Buch "Frohe Botschaften", für das sie einige ihrer in der "Welt" erschienenen Kolumnen ausgewählt haben. Ihr Themenspektrum ist ziemlich breit und reicht vom Doping im Radsport über die Wiederkehr des Gammelns bis zu Bruno, dem Problembären. Besonders angetan sind die Autoren aber von der Klimadebatte: Gut gelaunt rufen uns Maxeiner und Miersch zu: Ist doch alles nur halb so schlimm, kein Grund zur Sorge, auch dem Klima geht's prima.
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* Frohe Botschaften von Maxeiner, Dirk

"Wer sich die offiziellen Temperaturstatistiken der großen Forschungseinrichtungen wie der britischen ,Climate Research Unit' anschaut, ist leicht verblüfft. Pssssst: Die globale Erwärmung hat irgendwie ein Päuschen eingelegt. Seit 2001 ist der Planet nicht wärmer geworden, die Temperaturen stagnieren auf hohem Niveau." Maxeiner und Miersch loben außerdem die Tempo-30-Zonen, die Fußgängerampeln, unsere Medizin, die vielen Impfstoffe sowie die Tatsache, dass frisches Obst heutzutage eine Selbstverständlichkeit ist. "Bedenkliche Chemikalien wurden verboten, Baustellen abgeriegelt, und sogar die Zahl der Kindermorde ist seit den Siebzigern deutlich gesunken." Erfreulich, schreiben die Autoren, sei auch, dass die Rinderseuche BSE den Menschen verschont habe und die Vogelseuche plötzlich wie vom Erdboden verschluckt zu sein scheint. Wer der Welt Gutes tun möchte, dem raten Maxeiner und Miersch, im Supermarkt nach gentechnisch veränderten Produkten Ausschau zu halten und den ganzen Biokram links liegenzulassen. Die Gentechnik verringere schließlich den Einsatz von Pestiziden, sorge für mehr Ertrag und damit für weniger Flächenbedarf. Das wiederum entlaste die wilde Natur, es entständen neue Pflanzen, die dazu beitragen, "Mangelerkrankungen bei den Menschen in armen Ländern zu lindern".

Also Schluss mit der ganzen Hysterie? Dass man nicht jedes Wort, das Maxeiner und Miersch von sich geben, für bare Münze nehmen darf, versteht sich von selbst. Die beiden überspannen gerne den Bogen und spitzen gerne zu, dabei geht es ihnen in erster Linie gar nicht um Provokation, sondern darum, zu sensibilisieren; jede Medaille hat ja bekanntlich zwei Seiten oder, mit Maxeiner und Miersch gesprochen: "Konsens schützt nicht vor Nonsense." "Frohe Botschaften" ist jedenfalls ein hübsches Buch, was auch daran liegt, dass die Autoren den richtigen Ton treffen und nicht wie belehrende Weltversteher auftreten. Man lässt sich deshalb gerne von ihnen auf ihre Reise durch den deutschen Alltag mitnehmen. So viele gute Nachrichten hat es schließlich lange nicht mehr gegeben.
MELANIE MÜHL
Buchtitel: Frohe Botschaften
Buchautor: Maxeiner, Dirk
Text: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.07.2008, Nr. 156 / Seite 35

Weltbevölkerung, EKD, Moralismus, Golo Mann, Armutsrisiko

15-18°, regnerisch; abends 15°, die Grillen zirpen trotzdem.
"Entspannte Downbeats und chillige Sounds": Ansage auf KLASSIKRADIO

- "Religion und Wahrheit. Im Fegefeuer des Gottesmanagements. Die Religion stirbt nicht aus, doch sie ändert ihren Gehalt, meist nach den Bedürfnissen des Individuums. Der Soziologe Ulrich Beck sieht in diesem Wandel eine Chance. Eine Religion, die ihren Macht- und Wahrheitsanspruch verloren hat, kann endlich tolerant werden: Sie kann Frieden schaffen, statt Wahrheit zu verkünden. ..." FAZ.NET Feuilleton07. Juli 2008

- " Die Heuschrecke als Gottesanbeterin. Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) strebt einen "neuen Dialog" mit Unternehmern an und versucht, das Verhältnis der Kirche zu Unternehmern und marktwirtschaftlichen Positionen von Belastungen zu reinigen. ... Statt auf politische Vorgaben müsse man in der Sozialen Marktwirtschaft, so die EKD, auf die Fähigkeit und die Bereitschaft der einzelnen Menschen setzen, den Zwang des Marktes mit dem ethisch Gebotenen zu vereinbaren. ..." F.A.Z.08. Juli 2008 // Das sind nüchternere Töne, als sie in der Vergangenheit zu hören waren. Die leise Abkehr vom Sozialismus erfordert aber weiterhin zu begreifen, daß die spezifischen Funktionssysteme nach eigenen Regeln funktionieren und nur so erfolgreich sind. (Vgl. http://docs.google.com/Doc?docid=dfxbprhp_447g6pndthc&hl=de)
- OXFAM ! Die gibt's immer noch. Einmal gut, immer gut. Und vom guten Spendensammeln läßt sich auch gut leben, wie unlängst bei UNICEF zu erfahren war: Tagessätze bis 1200 €. Da macht der Moralismus Spaß. Die Hilfeopfer von OXFAM & Co. aber geraten in Abhängigkeit und Passivität und bäuerliche und kleingewerbliche Tätigkeit wird zerstört.
- Im 18. Jahrhundert betrug die Weltbevölkerung etwa 700 Millionen (Carr-Saunders, Willcox) - heute ca. sechs Milliarden mehr: 6 Mrd. 711 Mio. Menschen leben 2008 auf der Erde : jedes Jahr 80 Millionen ( 80.000.000) mehr : Bevölkerungsexplosion frißt Wohlstand.

- - Doch weil schon Ablaßhandelspriester
Von Ängsten gründlich profitierten
Sind wir vorsorglich auf der Hut:
Was gut sich gibt, ist längst nicht gut.

- ' Geringeres Armutsrisiko in Deutschland.
ppl. FRANKFURT, 8. Juli. Der Anteil der von Armut bedrohten Menschen liegt in Deutschland mit 13 Prozent deutlich unter dem EU-Durchschnitt von 16 Prozent. Auch das Ausmaß der Altersarmut und der Jugendarmut sind geringer als in den meisten anderen Ländern der Europäischen Union, zeigt die neue europaweite SILC-Statistik. In den skandinavischen Wohlfahrtsstaaten schneidet die Gruppe der jungen Erwachsenen überraschend schlecht ab. ... Am niedrigsten sind die Quoten in den Niederlanden und überraschenderweise in Tschechien (10 Prozent). In Bulgarien soll das Armutsrisiko mit 14 Prozent nur knapp über dem in Deutschland liegen ... Der Ökonom moniert, dass die Methode der "bedarfsgewichteten" Armutsmessung ein verzerrtes Bild liefere. Dies ist dann der Fall, wenn sich die Familienstrukturen ändern. "Die Bedarfsgewichtung unterstellt, dass ein Paar, das gerade an der Armutsgrenze lebt, falls es sich trennt, ein Drittel mehr Einkommen braucht, um immer noch über die statistische Armutsgrenze zu kommen", erklärt Sinn. In der Zunahme der Single-Haushalte sieht er den Hauptgrund für den Anstieg der statistisch gemessenen Armut bis 2005. "Die deutschen Familien lösen sich auf, und die Statistiker zählen mehr armutsgefährdete Personen." '
Text: F.A.Z., 09.07.2008, Nr. 158 / Seite 1 ( s. http://docs.google.com/Doc?id=dfxbprhp_487c34qwqf6 )

- "Wenn der Geist schwindet, soll der Atem weichen", meinte einst Golo Mann. Der Feuilletonist Schirrmacher spricht von "Selbstmord".

- Auch im sumpfigen Wasser des Aberglaubens spiegelt sich der Satz vom Grunde.

Krippenbetreuung sollte nicht schöngeredet werden

Krippenbetreuung sollte nicht schöngeredet werden 

Die Risiken einer unreflektierten Trennung von Mutter und Kind durch frühkindliche Betreuung müssen für jedes einzelne Kind bedacht werden. 
Von Ann-Kathrin Scheerer 
Es ist alarmierend, dass Millionen von Kindern im Alter von acht Wochen bis 36 Monaten in Krippen betreut werden, deren personelle Ausstattung und Ausbildung bei weitem nicht ausreichen, um ihnen die nötige zeitliche und emotionale Aufmerksamkeit zu bieten. Tagesbetreuungsplätze für Kleinstkinder dienen dazu, dass Mütter und Väter sich frühzeitig von ihren Kindern trennen können. Je früher im Leben diese Trennungen stattfinden, je abrupter sie vollzogen werden, je länger am Tag sie dauern, je wechselhafter die Betreuungsbeziehungen und je größer die Gruppen von Kindern sind, desto bedeutungsvoller und riskanter sind die emotionalen Langzeitfolgen und psychischen Tiefenwirkungen. Dabei sind es nicht unbedingt die Trennungen oder die kindliche Trauer als solche, die schädlich wirken - beides kann in keinem Kinderleben vermieden, aber durch umsichtige Betreuung und bewusste Gestaltung anerkannt und gemildert werden. Vielmehr sind es die Verleugnung, die Bagatellisierung und Nichtwahrnehmung von Trennungsschmerz und Verlustangst, die Krippenbetreuung zu einem psychisch riskanten Unternehmen für die Betroffenen und für die Gesellschaft insgesamt machen. Denn die frühen Beziehungserfahrungen der Kinder, das Erlernen des Gefühlsausdrucks, die Qualität ihrer emotionalen Bindungen zu den Eltern legen die Grundlage für psychische Gesundheit, für die Fähigkeit, befriedigende Beziehungen einzugehen und die eigenen widersprüchlichen Affekte und Antriebe zu integrieren. Wer in Kinderkrippen die morgendlichen Abschiedsszenen und Anklammerungsgesten des Kindes, das sich noch nicht trennen möchte, beobachtet, die oft auf eilige Eltern und überbeschäftigte Erzieherinnen treffen, oder wer die in sich zurückgezogenen Kleinkinder sieht, die sich tagsüber häufig selbst stimulieren oder beruhigen müssen, wird bemerken, dass hier etwas psychisch Gefahrvolles vor sich geht, oder er muss, um nicht mitzuleiden, seine Wahrnehmung abschalten. Genau das tun viele Krippenkinder. Sie funktionieren und lernen, ihre Gefühle zu unterdrücken, um sich dem kollektiven Gruppenleben anzupassen. Für die seelische und körperliche Entwicklung ist es dabei natürlich ein erheblicher Unterschied, ob ein Kind mit acht Wochen noch weit vor der Möglichkeit der differenzierten Affektwahrnehmung oder mit zwei Jahren, wenn es schon "nein" sagen und Sätze verstehen kann, in die Krippe kommt und funktionieren muss. "Funktionieren" im Kleinkindalter heißt, dass es bei Trennung von den Eltern nicht mehr weinen soll, dass es bei Einsamkeit lieber still als laut werden, dass es sich schnell beruhigen lassen soll. Diese "guten" Krippenkinder sind aber oftmals auch die psychisch Überforderten, sie haben noch keine Ausdrucksmöglichkeit für ihren Kummer oder Stress gefunden. Beides bleibt in ihrem Körper stecken, der dann, oft verzögert, also erst in der Familie, körpersprachliche Symptome zeigt. Die höhere Infektanfälligkeit von Krippenkindern ist durchaus als Ausdruck psychischer Anspannung und Überforderung durch Trennungsstress und Unterdrückung des Affektausdrucks zu verstehen. Krippenkinder brauchen "nach der Arbeit", also dem anstrengenden Krippenaufenthalt, viel beruhigende und ausgleichende Zuwendung zur Stärkung der Eltern-Kind-Beziehung. Je jünger die Kinder sind, desto mehr sind sie auf die verlässliche körperliche Anwesenheit einer vertrauten Person angewiesen. Kinder freuen sich über das Wiedererkennen von Vertrautem. Wenn ihre Erwartungen des Guten, die sich nur durch scheinbar ewige Wiederholungen bilden und festigen, erfüllt werden, werden sie selbstbewusst und selbstzufrieden, ja glücklich. Seele und Körper werden zusammengehalten durch Blickkontakt und begleitende Verbalisierungen. Es ist ein Irrtum zu glauben, dass die Person, die den Blickkontakt hält und mit dem Kind spricht, ohne eine innere Verunsicherung des Kindes beliebig austauschbar ist. Auch die Großmutter, der Tagesvater, die Krippenerzieherin, die das Kind von früh auf kennt und betreut, ist für das Kind als Nichtmutter identifizierbar. Wenn sie oder er als "Mutter" anerkannt wird, ist das eine gute neue Bindung, kann aber mitunter auch entfremdende Folgen für die Beziehung zur leiblichen Mutter haben, besonders wenn diese mit Eifersucht reagiert. Die Idealisierung von Mutterschaft zeigt sich im Glauben, Muttersein sei das wichtigste Weiblichkeitserlebnis überhaupt; aber zu glauben, man könne Mutter sein, ohne körperlich und emotional anwesend zu sein, kommt einer Mystifizierung der biologischen Mutterschaft gleich. "Mutter" zu sein bedeutet, viel Zeit mit dem Kind zu verbringen, seine Bedürfnisse wahrzunehmen und zu befriedigen, seine Gefühlskreisläufe zwischen Anspannung und Entspannung durch körperlich erfahrbare Anwesenheit aufzufangen. Das ist anstrengend, manchmal langweilig und erfordert auch Verzicht und Selbstverleugnung. Die "mütterliche" Zeit (ganz gleich, ob es sich um die der biologischen oder betreuenden Mutter handelt) besteht aus Wiederholungen und rhythmischer Erwartungserfüllung. Daher wirkt sie im Vergleich zur beruflichen Arbeitszeit, die aus Zeitpunkten und Zielen besteht, wie Zeit im Stillstand. Natürlich macht das die beruflich engagierte Mutter nervös, aber das vorübergehende Leben in diesem Kreisverkehr von Mutter, Vater, Kind ist für die Etablierung des kindlichen Ewigkeitsgefühls und seines Selbstwirksamkeitserlebens unverzichtbar. Ohne die Erfahrung von Omnipotenz und Selbstwirksamkeit in der ersten Lebenszeit ("Mein Wunsch und mein Schreien bewirken, dass Mutter oder Vater auftauchen und das, was ich schon kenne und erwarte, erfüllen") drohen Depressionen, schon heute die "seelische Volkskrankheit Nummer eins", oder trotzig-wütende Entgleisungen. Die bisher einzige Langzeitstudie, die die Auswirkungen von Krippenbetreuung auf die spätere Entwicklung von Schulkindern beforscht hat, zeigte einen Zusammenhang zwischen frühem Beginn und langer Dauer der außerfamiliären Betreuung und "auffälligem" Verhalten im Grundschulalter. Hirnforscher bestätigen, dass aggressive Dispositionen durch gute Bindungserfahrungen psychisch integriert, durch mangelhafte frühe Bindungen aber potenziert werden. Wenn Krippenbetreuung nicht schaden soll, muss sie vom Kind als Erweiterung der familiären Beziehungen erfahrbar werden, und das bedeutet, dass Eingewöhnungen viel Zeit brauchen. Je jünger das Kind ist, desto verlässlicher muss das Beziehungsangebot gestaltet sein, desto kleiner die Gruppen von bedürfnisgleichen Babys. Gute Krippen nehmen nicht gleichzeitig mehrere acht Wochen alte Babys auf, wenn das Personal dafür nicht ausreicht. Gute Krippenbetreuung kann nicht heißen, dass eine Betreuerin für acht oder mehr Zweijährige zuständig ist, die fast alle noch Windeln tragen und viel Zeit auf dem Schoß verbringen wollen. Auch Zweijährige sind noch darauf angewiesen, der "Liebling" zu sein, der möglichst ungehinderten Zugang zu "seinem" Erwachsenen beanspruchen darf, wenn es plötzlich nötig wird. Kinder sind erst mit etwa drei Jahren zu Empathie mit anderen Kindern und folglich auch erst dann zu freiwilligem Verzicht und zum längeren Warten fähig. Vorher befinden sie sich im vorempathischen Stadium der Affektansteckung. Auch deshalb ist es für den Krippenbetrieb so wichtig, dass die Kinder nicht mehr weinen. Häufig weinen andere aus Ansteckung gleich mit, und jedes Einzelne brauchte individuelle Beruhigung und vor allem die Anerkennung seines Kummers. Wie schnell Kummer, Trauer, Trennungs- und Verlustangst bei Krippenkindern übersehen werden, wird bei genauer Beobachtung erkennbar: Der kleine David kam mit 13 Monaten in die Krippe und gilt nach nunmehr drei, vier Monaten als "gut eingewöhnt". Seine Mutter verabschiedet ihn am Morgen schnell, sie ist in Eile und gibt ihm einen Kuss, dann ist sie weg. David reagiert auf die Abschiedsgesten seiner Mutter nicht, steht für einige Sekunden mit hängendem Kopf und hängenden Armen an der Tür. Dann steigt er auf ein rotes Plastikauto, rast, so schnell er kann, damit im Raum herum und fährt dann der Betreuerin, die gerade andere Kinder in Empfang nimmt, ans Schienbein. Sie sagt "Aua!", und David lacht. Er macht es noch mal und noch mal, das "Aua" der Erzieherin hat ihm gefallen. Offenkundig artikuliert die Betreuerin seinen Abschiedsschmerz, für den er selbst keine direktere Ausdrucksmöglichkeit hatte und der nur in wenigen Sekunden an seiner Körperhaltung sichtbar war. Später wird David ein kleines Mädchen von einem Stuhl schubsen, das zu weinen beginnt. Er wird von der Erzieherin ermahnt, das nicht zu tun. Er lacht darüber und boxt ein weiteres Kind auf den Arm. Es ist abzusehen, dass David seine tägliche Trennungsaufgabe, für die er weder Zeit noch Einfühlung bekommt, weiterhin aggressiv bewältigen wird. Er entäußert sich seines Schmerzes und lindert damit seinen innerseelischen Stress. Damit ist er psychisch weniger gefährdet als das stille Kind, das in seiner Desorientierung nach der Trennungsszene übersehen wird, weil es aus Alters- oder Temperamentsgründen kein extrovertiertes Verhalten zeigen kann. Wenn die aggressive Abwehr von Trennungs- und Verlustangst nicht als solche erkannt und mit Hilfe einfühlsamer Erwachsener in treffende Worte gefasst wird, entwickelt sie sich dann schnell zu einem Verhaltensmuster, das sich durch die ausgrenzenden Reaktionen selbst verstärkt.
Die Autorin ist Diplom-Psychologin und Psychoanalytikerin in Hamburg. Text: F.A.Z., 10.07.2008, Nr. 159 / Seite 8