Samstag, 31. Juli 2021

Im Fluß oder festgemauert?

Es gibt Menschen, die bleiben lebenslang Marxisten, wie mancher Journalist; andere bleiben lebenslang katholisch, wie mancher Theologe. Andere wechseln im Verlauf des Lebens. Ersteres ist ziemlich häufig und auch gut erklärbar: die immer gleichen Denkfiguren und Inhalte werden in den Denkstrom eingespeist.

Wie aber lassen sich Wechsel erklären? Ändert sich da etwas an der Identität? Häufig spielt sicher das Lebensalter eine Rolle, das durch Lebenserfahrung jugendliche Vorstellungen implodieren läßt, wie die Sowjetunion implodierte. Auch äußere Umstände - persönliche wie gesellschaftliche - können eine große Bedeutung erlangen, wie in diesem erstaunlichen Fall des Eduard Winters:


Eduard Winter, Sohn eines Schuhmachers und Kanzleiverwalters, besuchte die Volksschule in Sebastiansberg und das Obergymnasium in Böhmisch Leipa.

1915–1919 studierte er an der Theologischen Fakultät der Universität Innsbruck und wurde 1919 zum römisch-katholischen Priester im Bistum Leitmeritz geweiht. Zu weiteren Studien ging er an die Deutsche Universität in Prag. Während seines dortigen Studiums wurde er 1919 Mitglied der KDStV Vandalia Prag.[1] 1921 wurde er hier zum Doktor promoviert.

Er habilitierte sich 1922 in Theologie sowie 1926 in Philosophie. Im Winter 1926/27 reiste er nach Rom; nach seiner Rückkehr erhielt er eine neu geschaffene außerordentliche Professur für Christliche Philosophie. Am 13. Juli 1934 wurde er Nachfolger August Naegles als Ordinarius für Kirchengeschichte und Patristik an der Theologischen Fakultät der Deutschen Universität zu Prag.

In den folgenden Jahren kam es zu einer Entfremdung Winters von der Kirche und einer Annäherung an sudetendeutsche Positionen und den Nationalsozialismus. Ab Mai 1939 war er Mitglied der NSDAP. 1940 heiratete er seine Mitarbeiterin Maria Kögl, im gleichen Jahr wurde ihr gemeinsames Kind geboren. Er bat um seine Entpflichtung; es kam zu einem Skandal und zu seiner Exkommunikation. Im Herbst 1941 wurde Winters bisheriger kirchengeschichtlicher Lehrstuhl auf die Philosophische Fakultät übertragen und in eine Forschungsprofessur für Europäische Geistesgeschichte umgewandelt. Winter blieb so der Universität erhalten. Seine Forschungsschwerpunkte wurden nun Reformkatholizismus, Aufklärung und Josephinismus – eine entschieden antirömische Tendenz, die er bis an sein Lebensende durchhielt.[2] Winter war Leiter des Instituts für osteuropäische Geistesgeschichte der Reinhard-Heydrich-Stiftung in Prag.[3] Winter war Mitglied der SS und arbeitete 1945 für den Sicherheitsdienst des Reichsführers SS, SD.[4] Der Nationalsozialist Alfred Baeumler zeigte sich positiv beeindruckt von Winters Schrift Tausend Jahre Geisteskampf in der Ukraine. Byzanz und Rom im Ringen um den ostslawischen Raum, die ihm unter diesem ihrem ursprünglichen Titel bekannt war, später aber allein mit dem abgeänderten Untertitel publiziert wurde, aus dem das NS-Vokabular entfernt war. Baeumler empfahl Winter 1941 zur Arbeit im Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg, ERR, einer Organisation des Kunst- und Bibliotheksraubs.

Ende Juli 1945 wurde Winter aus Prag vertrieben; er kam zunächst nach Wien, wo auch seine Familie lebte.

Winter wandte sich dem sozialistischen Internationalismus zu und wurde 1947 auf den Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg berufen. Im Oktober 1948 wurde er als Nachfolger Otto Eißfeldts ihr Rektor. Seine Antrittsrede kennzeichnet seinen neuen Forschungsschwerpunkt: Der Vatikan und das russisch-französische Bündnis (1894).[5] Auch in den folgenden Jahren bis 1951 blieb er Rektor. Von 1951 bis zu seiner Emeritierung 1966 lehrte er an der Humboldt-Universität zu Berlin und leitete dort das Institut für Geschichte der Völker der UdSSR. Er war ab 1955 ordentliches Mitglied der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, wo er von 1955 bis 1959 die Historische Abteilung des Instituts für Slawistik, von 1956 bis 1959 die Arbeitsgruppe Geschichte der slawischen Völker am Institut für Geschichte und von 1961 bis 1965 die Arbeitsstelle für deutsch-slawische Wissenschafts-Beziehungen leitete. Er wurde 1963 zunächst korrespondierendes und vier Jahre später ordentliches Mitglied der Académie internationale d’histoire des sciences in Paris.

Winter unterstützte die DDR ideologisch und publizistisch, behielt jedoch seine 1946 erworbene österreichische Staatsbürgerschaft und wohnte in Berlin, wie auch viele DDR-Künstler und Wissenschaftler, in der Straße 201.[6]” (Wikip.)

Die Hauptstationen dieses Lebens dürften so zutreffen, auch wenn die Wikipedia nicht durch Zuverlässigkeit und Nüchternheit glänzt. Haben diese Brüche und Knicke den Menschen Winter beschädigt, seine Identität ausgehöhlt? 

Bei Foerster findet sich ein dynamische Selbst- und Identitätsvorstellung:

“Das Selbst erscheint nicht als etwas Statisches und Festes, sondern wird permanent und immer wieder erzeugt. … Das Selbst ändert sich, so meine ich, in jedem Moment, in jeder einzigen Sekunde.”* Den Psychologen wirft er vor, daß “sie an so etwas wie Identität überhaupt glauben.”*


Im Kern kann man ihm nur zustimmen, denn der Mensch besitzt ein großes Anpassungsvermögen, besonders im Bereich der Theorien und Ideologien. Nicht zuletzt hat das die Kanzlerin aus der sozialistischen Pfarrersfamilie vorgeführt, die heute in Bayreuth verkehrt. Begrenzungen in der Anpassungsfähigkeit sind in den Großen Fünf der Psychologie zu sehen: Extraversion, Neurotizismus, Offenheit, Verträglichkeit und Sorgfältigkeit. Da stehen die Fundamente relativ fest, weil mit dem Nervensystem verbunden. Sie haben aber nichts mit der Identitätsmode zu tun.  

*H.v. Foerster, B. Pörksen, Wahrheit, S. 94f.