Freitag, 23. August 2013

Sprache ist mehr als ein großer Haufen vieler Wörter




  • “Identität” ist einer der vielen Phantombegriffe aus der PhilFak, ein Wiesel-Wort an allen Ecken, das etwas Sinnvolles auszusagen scheint, man weiß nur nicht genau, was. Einen interessanten Versuch zur Klärung hat Erik Erikson in seinem Buch “Identität und Lebenszyklus” unternommen, doch bleibt der Psychoanalytiker der Schwäche seiner Zunft verhaftet, unpräzise und nebulös zu deuten, statt den Begriff kritisch abzuklopfen, ob er nicht vielleicht innen hohl sei.
  • Auf ganz andere Weise hat Martin Walser sich besonders in den Romanen “Halbzeit”, “Das Einhorn” und in “Seelenarbeit” dem Phantom genähert. Anselm Kristlein, der Protagonist der ersten Romane, kommt zu dem Schluß, er sei ein Di-viduum, kein Individuum. Waren es bei Goethe im FAUST erst zwei widerstreitende Seelen in einer Brust, so verspürt Kristlein viele davon, und futsch ist die Identität. Der Mensch ist eben multi-modular aufgebaut, und diese einzelnen Module steuern vor allem über das Hormonsystem das Di-viduum, das sich am gleichen Tag recht unterschiedlich verhalten kann, je nachdem, welches Modul gerade die Oberhand besitzt, und auch unter verschiedenen äußeren Bedingungen anders steuert.
  • In der SED-Diktatur trat Angela Merkel in die FDJ ein, was nur wenige Christen taten, nach dem Sturz der Diktatur gesellte sie sich der CDU zu. Erst trat sie für die Marktwirtschaft ein, heute propagiert sie eine Subventionswirtschaft. Wer weiß, wo sie enden wird?
  • So ging es auch Anselm Kristlein, der zunächst jedem Rock hinterherläuft, heute aber, als Kristlein-Nachfolger “Muttersohn”, ganz andere Interessen besitzt. Nur gewisse Ähnlichkeiten sind über die Jahrzehnte vorhanden. So ist das mit der Identität: es gibt sie nicht.

  • Ein anderer Ansatz wäre, sich von der Entwicklungspsychologie her zu nähern mit der Beachtung der genetischen Vorgaben. Wenn sich das Kind gemäß seinen Anlagen entwickeln kann, ohne von außen bedrängt und schikaniert zu werden, also nach Nietzsches Imperativ “Werde der, der du bist” wachsen darf, dann wird sich, wenn nicht innere, endogen psychotische Störungen eintreten, ein gewisses Befriedigungsgefühl einstellen, eine Zufriedenheit des Menschen mit sich und seiner Umwelt, die Interpreten wie Erikson als “Identität” verorten.
  • Diese Zufriedenheit stammt zu einem großen Teil aus kommunikativen Prozessen, zunächst mit Mutter und Vater, dann mit einem wachsenden Radius mit der Umwelt. Wenn die Rückmeldungen überwiegend positiv ausfallen - zunächst muß die Mutter sich ganz auf das Kind einstellen - dann festigt sich die Lebenszufriedenheit.
  • Der Kern ist dabei die kommunikative Verbindung mit anderen Menschen, die mit ähnlichen Kommunikationsmustern operieren. Das hat viel mit der Muttersprache zu tun, wenn es dem Menschen ergeht wie in Hebels Kannitverstan-Geschichte, dann kann es keine positiven Rückmeldungen geben und ein nicht angenehmes Gefühl der Fremdheit stellt sich ein. Der Ostfriese, der nur Plattdeutsch spricht, wird sich im niederbayrischen Dorf, in dem nur bayerisch gesprochen wird, nicht wohlfühlen. Ein vielsprachiger Mensch wird dagegen seinen sprachlichen Wohlfühlradius stark ausdehnen können.
  • Das verwandte Heimatgefühl speist sich darüberhinaus auch aus der Bilderwelt der Kindheit und Jugend. Wer in verschiedenen Ländern und Landschaften aufwuchs, wird ein solches Heimatgefühl nicht besitzen, und, wie ich aus Erfahrung weiß, auch nicht vermissen. Eine heimatliche Kultur aber schon. Die Kultur, etwa die einzigartige westliche Kultur, beruht auf einem riesigen Apparat von Kommunikationen, geronnenen aus der Geschichte und gegenwärtigen, wie sie in aktuellen Kommunikationen entgegentritt. Obwohl das lateinische Mittelalter Europa zu einem Kommunikationsraum der Lateinschreiber und -leser zusammenschloß, so haben doch die einheimischen volkssprachlichen Kommunikationen eine viel größere Wirkung entfaltet, so daß zwar die europäischen Nationalkulturen viele Ähnlichkeiten aufweisen, doch gibt es noch heute keine europäische Öffentlichkeit, weil die Sprachen- und Kulturvielfalt zu groß ist. Das ist der große Unterschied zu den USA, die einen gemeinsamen Sprach- und Sprachkulturraum besitzen, der sie zudem mit Großbritannien verbindet. Die Vereinigten Staaten von Europa wird es schon aus sprachlichen Gründen nicht geben.
  • Nicht nur mit dem Sprachenproblem wird Europa noch lange ringen - man sehe sich nur die belgische Geschichte an - auch die unqualifizierte Einwanderung aus nicht kompatiblen Kulturen bedroht Europa von innen. Die Zuwanderer aus völlig andersartigen Kommunikationsräumen sprechen nicht nur oft nicht die Landessprache und auch kein Englisch – sie haben auch völlig andere sprachkulturelle Speicherungen im Kopf, die sie in den langen Jahren der Kindheit und Sozialisation erworben haben. Indische Jungen haben in der Regel die Minderwertigkeit ihrer Schwestern in der Familie verinnerlicht, die europäische Kultur können sie nur sehr schwer verstehen, annehmen in der Regel nicht, weil sie millionenhaft andere Abspeicherungen im Gedächtnis haben.

Für die Lebenszufriedenheit der Binnenbevölkerung, die nicht unwesentlich von positiven Kommunikationen abhängt, sind informelle Sperrzonen in den Städten, sog. NO-GO-Areas, aufgrund von hoher Kriminalität und Anderssprachigkeit problematisch. Ein Begriff von kommunikativer Lebenszufriedenheit erweist sich so auch in praktischer Hinsicht als zielführender als die nebulöse „Identität“.