Samstag, 1. Mai 2010

"Gewohnheiten des Herzens"



Alexis de Tocqueville 1805-1859
(Bild: Wiki.)




" Ein Fluch dem falschen Vaterlande ", schrieb weiland der Eisenbahnaktionär und Rothschild-Verwandte Heine (s. Blog v. 24. Januar 2010) in seinem Weberlied, in dem er auch unterschlug, daß ganz Deutschland vom Elend der schlesischen Weber schockiert war und daß der preußische König Friedrich Wilhelm IV. sogar aus seiner Privatschatulle für sie spendete (s. Golo Mann, Dt. Gesch.). Aber wenn es ihm in den Reim und die linke Gesinnung paßte, nahm Heine die Dinge nicht so genau.
Das falsche Vaterland? Gibt es denn ein richtiges? Smetana war davon überzeugt und machte eine schöne Tondichtung daraus: MEIN VATERLAND (1874-80). In dem Teilstück TABOR greift er weit in die Geschichte zurück, in das 15. Jahrhundert, zu den Hussiten. Mit der Vaterlandsbrille auf der Nase sieht man es schon früh beginnen.

Auch Studenten in dem deutsch-jüdisch-rumänischen Czernowitz konnten vaterländisch sehen:
„Im Januar 1922 stürmte eine Gruppe rumänischer Studenten die Aufführung von Schillers „Räubern“ im Stadttheater, weil sie den Hauptdarsteller für einen Juden hielten. Man wollte ein rein rumänisches Volkstheater ...“ (Der Traum einer Stadt, Rez. : Helmut Braun (Hg.), „Czernowitz“, Links 2005; FAZ 23.12.05).
Wer die Spuren des Nationalismus aufsucht, folgt einer Fährte, die schnell blutig wird. Drum besser wär's, das "Vaterland" ganz zu streichen und, wenn denn die Kind-Eltern-Perspektive partout erhalten bleiben soll - wofür bei Erwachsenen nichts spricht - durch "Mutterland" zu ersetzen. Das wäre dann das kleine Land der Kindheit, des Muttersprachenerwerbs und des Kennenlernens und Erlernens der Sitten und Gebräuche der Heimat. Also eines kleinen Landesteils nur, Niederbayerns etwa, oder Frankens, Frieslands, oder sogar nur Frankfurts. Nach der Kindheit lernt jeder noch dazu, daß sein spezieller Muttersprachendialekt zu einer größeren Spracheinheit gehört, und auch die wiederum verbindet sich mit größeren Einheiten, die aber immer abstrakter und unverbindlicher werden. Handel, Verkehr und leistungsfähige Kommunikationsmittel verbinden immer größere Räume, mit abnehmender Intensität. Schon sehr seltsam ist für den Allgäuer der norddeutsche Gruß "Moin, moin", wie für den Friesen das "Grüß Gott" des Schwaben niedlich klingt. Selbst Nachbarstädte wie Reutlingen und Tübingen können sich stark in ihren Sitten und Gebräuchen unterscheiden, in sie wächst der junge Mensch hinein. Solche Sitten benennt Tocqueville in seinem großen Buch "Über die Demokratie in Amerika" stimmungsvoll als "Gewohnheiten des Herzens", meint dabei aber sehr allgemeine Einstellungen wie etwa individualistische Haltungen und egalisierende Vorstellungen, die von ihrer Herkunft her völlig verschiedene Amerikaner verbindet, Amerikaner, die ansonsten Chinesen sind, die gerne in China-Town wohnen, oder Latinos in Spanish Harlem, Juden in Williamsburg, Italiener in Little Italy etc. Dort pflegen sie ihre "Gewohnheiten des Herzens", ihre "Habits of the Heart", wie es später bei Robert Bellah heißt, der den umschreibenden Ausdruck Tocquevilles in einem Buch seinerseits aufgreift. Amerikaner haben naturgemäß bei der Vielzahl ihrer ethnischen Herkunftsgruppen einen größeren Klärungsbedarf bei der Frage "Who are we?", so der Titel des letzten Buches von Sam. Huntington. Auch er adressiert eher abstrakte Orientierungen und Verhaltensstile. Sie stehen mit den eigentlichen, vorrationalen, unbewußten, früh eingelebten "Herzensgewohnheiten" in Verbindung, wurzeln aber nicht so tief und so sinnlich und landschaftlich wie sie. Die "Herzensgewohnheiten" bilden eine feinnervige, früh eingeschriebene Struktur von Gedächtnisabspeicherungen, die schnell überdeckt werden durch allgemeinere Gedächtnisinhalte, aber ihre fundamentale Ausstrahlung meist behalten und im Alter vergewissernd gerne erinnert werden. Ihre emotionale Bedeutung kann groß sein, selbst wenn der Erwachsene sich anderwo in der Welt angesiedelt hat und dort ein zufriedenes Leben führt. Wenn er die Kinderheimat besucht, kann es ihm leicht gehen wie Heine, mag das Kinderland inzwischen auch zu einem anderen Machtgebilde (vulgo "Vaterland") gehören oder nicht:
" Und als ich die deutsche Sprache vernahm,
Da ward mir seltsam zumute:
Ich meinte nicht anders, als ob das Herz
Recht angenehm verblute. "