Sonntag, 20. Oktober 2013

Das Gehirn dichtet auch so allerhand






Die Merseburger auf Pergament
(Bild: Wiki.)




Im Hintergrund lauert der Satz vom Grunde. Es regnet, weil … Die Pest wütet, weil … Weiß der Mensch den Grund, fühlt er sich besser, und besser gewappnet. Es regnet, weil der Häuptling den Regentanz aufgeführt hat. Die Pest wütet, weil die Stadt gesündigt hat. Die Kenntnis der Gründe stärkt. Besonders dann, wenn tatsächlich identifizierbare Gründe und Kräfte wirken. In einfachen Beziehungsgefügen, die dem Experiment zugänglich sind, lassen sich echte Gründe herausfinden. Bei komplexen Wirkungszusammenhängen nicht mehr. Dann schlägt die Stunde der Dichtung. Wir wissen nicht, woher wir kommen? Der Sonnengott hat uns gezeugt. Die Bäume sterben? Le WALDSTERBEN. Ein Loch oben im Ozon? Die Fluorkohlenwasserstoffe.

Die zehnstellige Telefonnummer können wir gerade noch aus dem Kurzzeitgedächtnis eingeben, nach ein paar Minuten ist sie meist vergessen. An mehrere Gegenstände gleichzeitig können wir nur undeutlich denken. Zwar sind die individuellen Unterschiede groß, aber das Kurzzeitgedächtnis ist immer begrenzt. Daher sind auch die Verstehensmöglichkeiten begrenzt. Sie sind sogar bei vielen Menschen so eng ausgefallen, daß sie sich auch bei schwierigen, schwer durchschaubaren Dingen unbedingt einen kurzen Reim machen wollen. So etwa:
So Beinrenkung, so Blutrenkung,
so Gliedrenkung:
Bein zu Bein, Blut zu Blut,
Glied zu Glied, wie wenn sie geleimt wären
(Merseburger Zaubersprüche, 9./10. Jht.)

Die B-Anlautungen liebt das Gedächtnis, und Paar-Reime besonders:

Ach, was muß man oft von bösen
Buben hören oder lesen.  (Busch)  

Kurz und knapp und gereimt, das geht sogar gern ins Langzeitgedächtnis und kann Jahrzehnte dort überdauern. Darin liegt der Reiz der Dichtung, daß sie Komplexität reduziert und Langes verkürzt. Und mit Bildern verrührt. Denn eben, wo Verständnis fehlt, da hilft ein Bild gewaltig weiter, kann man, abgewandelt, mit Goethe dazu sagen. Und das Ganze dann noch in Klatsch, Tratsch und Sex gegossen, ob Courths-Mahler oder Grass, je nach Gefühls- und Niveaubedürfnissen, schon hat man die gesamte Literaturgattung beisammen.
Daran ist nichts besonders Geheimnisvolles. Es gefällt, weil es angenehm unterhält. Auf allen Unterhaltungsstufen. Und in allen Bereichen.
Auch für Sternenfreunde wird gereimt:
Ach, Sternlein dort
Ach, Sternlein dort,
Am Himmelsort,
Du glänzest so alleine
Und scheinest nur so kleine.

Und sprich, was geht denn dorten vor,
Doch mach’ mir keine Wippchen vor,
Ist es denn dort erquicklich?
Und lebt man dorten glücklich?
… (Friederike Kempner)


Arnando Benini macht es sich in der NZZ (30.8.13) ein bißchen schwer mit seinen Hirn-Kunst-Betrachtungen, ohne zum Kern der Literatur, der Komplexitätsreduktion und der Unterhaltungsfunktion, vorzustoßen. Daher stammt sowohl ihre kognitive Beschränkung, wenn nicht gar Bedeutungslosigkeit, als auch ihre emotionale Verführungskraft. Auch die Politik dichtet gern, im weitesten Sinne, wie Wagner, und macht TamTam dazu, wie in Wagners “Götterdämmerung”. Und Politiker scheinen lieber in die Wagnerei zu gehen, als in Mozarts “Cosi fan tutte”.  

Selbstverständlich kann man sich überall seine Gedanken machen und erkennend tätig sein, in Betrachtung einer Straßenbahn ebenso wie bei einem schwarzen Malewitsch-Quadrat - und auch bei Lyrik:

Eure Etüden

Eure Etüden, 
Arpeggios, Dankchoral 
sind zum Ermüden 
und bleiben rein lokal. 

Das Krächzen der Raben 
ist auch ein Stück -
Dumm sein und Arbeit haben: 
das ist das Glück.
...

Gottfried Benn