Sonntag, 16. September 2018

Als man noch in Prag an der deutschen Universität studierte



“Mein Urgroßvater ist ein weitberühmter Doctor und Heilkünstler gewesen, sonst auch ein gar eulenspiegliger Herr, und wie sie sagen, in manchen Dingen ein Ketzer. Das alles ist er auf der hohen Schule zu Prag geworden, von wo er aber, da er kaum den neuen Doctorhut auf hatte, seinem eigenen Ausdrucke nach wie ein geschnellter Pfeil fortschießen mußte, um sein Heil in der Welt zu suchen. Die Ursache, warum er so schnell fort gemußt hatte, hat er, der Erzählung meines Großvaters zu Folge, nie dazu gesetzt. Welche sie auch gewesen ist, so hat sie ihn doch zu jener Zeit in die schöne Waldeinsamkeit seiner Heimat geführt, wo er sofort viele Meilen in der Runde kurirte. Vor wenigen Jahren erzählte von ihm noch manche verhallende Stimme des Thales, ja in meiner Knabenzeit kannte ich noch manchen verspäteten Greis, der ihn noch gekannt, und mit seinen zwei großen Rappen herum fahren gesehen hatte. Als er uralt und wohlhabend geworden war, ging er endlich auch den Weg von manchem seiner einstigen Pflegebefohlenen, und hinterließ meinem Großvater Ersparnisse und Hausrath. Das Ersparte ist zuerst fort gekommen, und zwar im Preußenkriege; der Hausrath aber ist noch stehen geblieben. Von der Art und Weise des Doctors, die sehr abweichend von der der andern gewesen sein soll, haben sich nach seinem Tode noch lange die Bruchstücke im Munde der Leute erhalten; aber die Bruchstücke schmolzen wie Eisschollen, die im Strome hinab schwimmen, zu immer kleineren Stücken, bis endlich der Strom der Ueberlieferungen allein ging, und der Name des Geschiedenen nicht mehr in ihm war. Die Geräthe und Denkmale sind auch immer verkommener und trüber geworden. Von diesen Denkmalen möchte ich sprechen, da sie einst meine schauerliche innere Freude waren.”  


Stifter, Adalbert. Die Mappe meines Urgroßvaters (German Edition) (Kindle-Positionen36-46). Kindle-Version.


Der Großvater wurde sogar reich! Und Stifter kritisiert das nicht!
Wie anders der Kollege und Zeitgenosse Heine (1797-1856). Der wurde reich und kaufte von Onkel Salomon Eisenbahnaktien, kritisierte aber alle Wohlhabenden und wollte seine Gedichte für den Kommunismus opfern. Da kann Stifter natürlich nicht auf Schonung durch die Feuilleton-Hengste rechnen. Die loben den roten Heine und verdammen Stifter als biedermeierlich. Tja, so geht’s eben in der Welt, könnte man stifterisch anmerken.
Der “Preußenkrieg” war der Siebenjährige Krieg (1756–1763), alle Groß- und Mittelmächte machten mit bis Nordamerika und Indien, aber hier hat Stifter den deutschen Dualismus Preußen - Österreich im Sinn, Stifter lebte ja im Habsburgerreich; Prag gehörte dazu, wo der Urgroßvater an der deutschen Universität studiert hatte. Medizinisch scheint der erfolgreich gewesen zu sein, wahrscheinlich war er aber auch nur ein Scharlatan, denn die Medizin befand sich noch in den Kinderschuhe und brachte die Patienten durch den schamanischen Aderlaß um, wie seinerzeit Mozart.

Auch Faust und sein Vater waren hochgelobte Ärzte:
"Hier war die Arzenei, die Patienten starben,
Und niemand fragte: wer genas?
So haben wir mit höllischen Latwergen
In diesen Tälern, diesen Bergen
Weit schlimmer als die Pest getobt.
Ich habe selbst den Gift an Tausende gegeben:
Sie welkten hin, ich muß erleben,


Daß man die frechen Mörder lobt."

Faust 1, Vor dem Tor (Osterspaziergang)