Sonntag, 17. August 2008
Georgien bangt weiter, Merkel für Nato-Mitgliedschaft Georgiens
- "17.8. NZZ Online: "Merkel für Nato-Mitgliedschaft Georgiens. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sich für die Nato-Mitgliedschaft Georgiens ausgesprochen. Sie sagte nach einer Unterredung mit dem georgischen Präsidenten Michail Saakaschwili am Sonntag in Tiflis, Georgien werde, wenn es das wolle, Nato-Mitglied werden. ...
Russen haben sich in Georgien festgesetzt
Die russischen Truppen haben sich am Wochenende im Kernland von Georgien festgesetzt. Sie errichteten Befestigungen um ihre Panzerstellungen und postierten Wachen auf einem Berg nahe der Stadt Igoeti, 50 Kilometer westlich von Tbilissi.
Die russischen Truppen hielten die zentrale Ost-West-Strassenverbindung unter ihrer Kontrolle. Ihre Soldaten befanden sich in grosser Zahl in der Umgebung der Stadt Gori sowie in Senaki. Von dort aus kann der Zugang nach Abchasien und zum Schwarzmeerhafen Poti überwacht werden. Besetzt wurde nach russischen Angaben vom Sonntag auch das Wasserkraftwerk Inguri in Westgeorgien.
Georgier als Zwangsarbeiter
In Zchinwali, der Hauptstadt von Südossetien, sah ein Reporter der Nachrichtenagentur AP, wie ein russischer Offizier und bewaffnete Osseten ältere georgische Männer dazu zwangen, Trümmer von einer Strasse zu räumen. Das georgische Aussenministerium warf russischen Truppen und separatistischen Kämpfern in Abchasien vor, in dieser Region 13 Dörfer eingenommen zu haben."
- "Georgien bangt weiter. Nikolaus von Twickel, Tbilissi
17. August 2008, NZZ am Sonntag
... In das unmittelbar südlich gelegene Gori, die Geburtsstadt Stalins, sickerten ossetische und andere kaukasische Freiwillige ein, denen heute Greueltaten nachgesagt werden. Die Regierung in Tbilissi hat Videos ins Netz gestellt unter www.sosgeorgia.org, die belegen sollen, dass russische Soldaten bei Überfällen nicht nur tatenlos zusehen, sondern sich selber bedienen, etwa in einer verlassenen Bankfiliale in Gori. Bei einem Besuch in Gori gibt der örtliche russische Kommandeur, General Wjatscheslaw Borissow, zu, dass es Übergriffe gegeben habe, erklärt aber, dass seine Soldaten nicht alles kontrollieren könnten. «Wir sind keine Polizisten», sagt er. Die russischen Soldaten würden zurückgelassene Waffen der Georgier einsammeln. Dabei scheinen die Russen die Reste der georgischen Armee zu zerpflücken. «Das sind die Barbaren des 21. Jahrhunderts», erklärt Präsident Saakaschwili an einer Pressekonferenz mit US-Aussenministerin Condoleezza Rice.
Der Präsident zieht über die Europäer her, die Georgien die Mitgliedschaft in der Nato verweigerten. «Ich habe es der Welt gesagt, dass daraus noch mehr Ärger erwachsen wird, aber einige haben mich als Hitzkopf hingestellt.» Kühl und berechnend wirkt Saakaschwili allerdings auch jetzt nicht. Eher fahrig und sichtlich gestresst spricht er von den Untaten der Osseten und Russen, die sich anschickten, all das zu zerstören, was seine Regierung in Südossetien aufgebaut habe.
Die Kulisse für Saakaschwilis meist nächtliche Pressekonferenzen ist die halbfertige bombastische Präsidentenresidenz mit einer Art kleiner Reichstagskuppel hoch über dem Fluss Mtkvari. Der Rasen wird grellgrün angestrahlt. Saakaschwilis Verzweiflung wird mit jedem Tag verständlicher, denn die russischen Soldaten im Land machen, was sie wollen. Immerhin liess Präsident Bush seine Aussenministerin in Tbilissi sagen: «Die Russen müssen sofort abziehen, wir sind nicht im Jahre 1968.» Während Rice sprach, rückten russische Panzer bis auf 20 Kilometer an die Stadt heran."
Alter russischer Wunsch
Einige Beobachter in Tbilissi befürchten, dass Moskau noch Übleres im Schilde führt: «Es ist ein ganz alter russischer Wunsch, Georgien zu zerstückeln, um es besser zu kontrollieren. Wer Georgien kontrolliert, beherrscht den Kaukasus», sagt der Publizist und Historiker Lascha Bakradse. Aber ist Moskau wirklich bereit, das Land zu erobern und die Folgen einer Besatzungsherrschaft zu schultern? An solch einem abenteuerlichen Szenario zweifeln in Tbilissi eigentlich alle. Regierungsvertreter bemühen sich, Untergangsstimmung mit Sarkasmus zu verjagen: «Der Staat kann zeigen, dass er stabil weiterarbeitet und dass Moskau mit einem Regierungswechsel nichts erreichen würde», sagt Gia Nodia, früher Chef eines Instituts für Sicherheitsfragen und seit Jahresbeginn Minister für Bildung und Wissenschaft.
«Vielleicht», fügt er hinzu, «geht es den Russen ja nur um Rache – und sie wollen uns einfach noch ein bisschen weiter erniedrigen.» Für Nodia ist klar, dass die Partnerschaft mit Washington der einzige Weg bleibt: «Da Europa keine klare Position gegenüber Russland hat, gibt es keinen anderen Verbündeten als die Amerikaner.»
Der Autor ist Reporter der in Russland erscheinenden Tageszeitung «The Moscow Times».
- Zzeichen: 16. August 2003 Todestag des ugandischen Diktators Idi Amin: "1979 hatte man ihn aus Uganda fortgejagt, noch 24 Jahre konnte er unbehelligt im Exil in Saudi-Arabien ein angenehmes Leben führen. Nie wurde er für die Grausamkeiten seiner achtjährigen Schreckensherrschaft bestraft. Idi Amin galt in den 1970er Jahren als Inbegriff des brutalen psychopathischen afrikanischen Gewaltherrschers. Mehrere Hunderttausend Menschen kamen in dieser Zeit in Uganda gewaltsam zu Tode. seine "Krankheit" sei gewesen, so ein Psychiater, der es auch nicht besser wußte, daß Amin Macht verliehen worden sei.
// Na ja. Jedenfalls: Macht, Testosteron, fehlende Kontrollintelligenz, fehlende Empathie, Tötungslust, Orientierungslosigkeit - das ist die tödliche Disposition, nicht nur bei Amin. Übrigens: Tötungslust ist universell bei vielen Tieren. Die Katze spielt mit der Maus, auch ohne Hunger, ein lustiges Tötungsspiel. Der Fuchs tötet alle Hühner im Stall. Wolf und Bär reißen alle Schafe, deren sie habhaft werden können etc.
- " Eltern ließen kleinen Florian verhungern. Die Eltern des im Februar verhungerten kleinen Florian sind vom Landgericht Frankfurt an der Oder wegen gemeinschaftlichen Totschlags durch Unterlassen zu langjährigen Haftstrafen verurteilt worden. ... In der mündlichen Urteilsbegründung heißt es, die fehlende Verständigung darüber, wer für die Versorgung des Kindes verantwortlich ist, sei letztlich die Ursache des Todes. Obgleich Verwandte die Eltern auf das abgemagerte Kind hinwiesen, habe das junge Paar den Beziehungskonflikt nicht lösen können. Letztlich hätten die Eltern das Überleben Florians dem Zufall überlassen. Die beiden arbeitslosen Eltern verbrachten einen Großteil ihrer Zeit mit Computerspielen, durch die sie in eine andere Welt flüchten konnten. Die Eltern hatten sich nach eigenen Angaben darauf verlassen, jeweils der andere habe das Baby bereits versorgt. Am 13. Februar konnte der Notarzt nur noch den Tod des halbjährigen Säuglings feststellen. Er wog wegen chronischer Unterernährung zum Todeszeitpunkt weniger als bei seiner Geburt." AFP 16.8. // Nach Wohlfahrtsstaat und Verzehnfachung der Sozialarbeiterschaft ...
BÜCHER:
- Wir treffen viele harmlose Spinner . Seelen ohne Rückfahrkarten: Der Historiker James Webb führt durch die Welt des Irrationalen
Im Wissenschaftsblatt "New Scientist" war vor kurzem ein Spezial über die Vernunft zu lesen. Sieben Koryphäen, vom Erzbischof bis zum Mathematiker, ...
- Luhmann, Die Moral der Gesellschaft, Suhrkamp 2008, 14€
- Trug den falschen Namen: Geburtstag des Jesuitenpaters und Hitlergegners Friedrich Muckermann am 17. August 1883
Die Entzauberung Russlands
16. August 2008, Neue Zürcher Zeitung
Die Entzauberung Russlands
Ungeachtet der fast beliebig politisch instrumentalisierbaren Frage, wer denn nun am Südkaukasus am heftigsten in die schon lange glimmende Glut geblasen hat – georgische Generäle, südossetische Separatisten oder russische «Friedenstruppen» –, die militärische Bestrafungsaktion Moskaus gegen Georgien ist unverhältnismässig und spottet allen Grundsätzen eines «partnerschaftlichen» Umgangs mit Europa und den USA.
Vor allem aber hat Moskau über Nacht in Europa neue strategische Realitäten geschaffen, die still hinzunehmen aus westlicher Sicht inakzeptabel, ja längerfristig gefährlich wäre. So sind russische Truppen unter anderem bis nach Gori vorgestossen, der Geburtsstadt Stalins, die im Kernland Georgiens und dicht an der von Baku in Aserbeidschan nach Supsa am Schwarzen Meer führenden Pipeline liegt, die an Russland vorbei Erdöl nach Europa pumpt.
Schmerzliche Erfahrung
Erkannt hat die Tragweite der militärischen Operation mit Verzögerung Washington, das den Ton gegenüber Moskau markant verschärft hat und nun laut über Sanktionen wie den Ausschluss Russlands aus der G-8 oder über dessen Nichtaufnahme in die Welthandelsorganisation nachdenkt.
Paris und Berlin äussern «Besorgnis» und rufen in wattiger Diplomatensprache beide Seiten zur Mässigung auf. Der vom EU-Rats-Präsidenten Sarkozy hastig entworfene Friedensplan wird im Elysée als diplomatischer Erfolg gefeiert; er ist es nicht, denn er verpflichtet Moskau zu nichts, was Russland nach vollbrachter Tat nicht ohnehin zu leisten bereit wäre. Derweil empören sich die osteuropäischen EU- und Nato-Mitglieder. Sie wissen aus schmerzlicher Erfahrung, dass sich Geschichte wiederholen kann – wohl unter anderen Vorzeichen, aber mit ähnlichen Folgen.
Vergeblich hatten sie noch im Frühling in Bukarest um die rasche Aufnahme Georgiens und der Ukraine in das Nato-Mitgliedschafts-Programm geworben. Deutschland und Frankreich waren dazu nicht bereit, aus Rücksichtnahme auf russische Empfindlichkeiten. Washington waren die von Sarkozy zugesagte Truppenaufstockung in Afghanistan und die in Aussicht gestellte vollständige Rückkehr Frankreichs in die Nato-Militärstruktur zu wichtig, als dass es Lust gehabt hätte, einen neuen Streit über die Ausweitung des Bündnisses vom Zaun zu brechen.
Nicht nur in Berlin und Paris dürfte nun die Erleichterung angesichts der jüngsten Ereignisse gross sein, sich im Rahmen der Nato nicht unangenehmen Verpflichtungen auszusetzen. Die osteuropäischen Länder aber, allen voran die Ukraine und Georgien, werden ihren künftigen sicherheitspolitischen Kurs sehr genau auf die Folgen der Krise abstimmen.
Gefährliche Folgen
Bleibt es – was zu befürchten ist – bei diplomatischen Ermahnungen und weiteren wohlklingenden Friedensplänen ohne praktische Relevanz, wird dies Moskau in seiner Einschätzung bestärken, dass es im «nahen Ausland» seine strategischen Interessen durchsetzen kann, sei es mit politischen oder wirtschaftlichen Mitteln, sei es mit der «regulierten» Energieversorgung, sei es mit der Drohung mit oder gar Anwendung von militärischer Gewalt. Letzteres dürfte auch weiterhin die Ausnahme bleiben, weil – wie Figura zeigt – Politiker vom Schlage eines georgischen Präsidenten Saakaschwili sehr rasch die Lust am Kräftemessen verlieren, wenn sie ohne Beistand kämpfen müssen.
Aussichtslos scheint für Georgien nach dem jüngsten Waffengang eine Reintegration Südossetiens und Abchasiens. Die Frage von deren Status wird die Staatenwelt zwar viele weitere Jahre beschäftigen; an der Realität einer faktischen Annexion durch Russland aber wird sich nichts ändern, zumindest so lange nicht, wie damit der Phantomschmerz durch den Verlust an imperialer Bedeutung gelindert werden kann, unter dem Russlands aussenpolitische Machteliten seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion leiden. Ähnliches ist für die Krim und die dort stationierte Schwarzmeerflotte sowie die Lage in Transnistrien in der Moldau zu vermuten. Spüren aber dürften die Folgen auch energieabhängige EU-Mitglieder in geografischer Nähe zu Russland, allen voran Polen, das mit seiner Einwilligung zur Stationierung gegen Iran gerichteter amerikanischer Abfangraketen in der Lesart des Kremls am Freitag einen schweren Fehler begangen hat.
Irritierende Langmut
Die etwa im deutschen Aussenministerium auch dieser Tage fast schon reflexartig wiederholte Formel, man müsse mit Russland «partnerschaftlich» umgehen und dürfe Moskau nicht leichtfertig isolieren, signalisiert eine Form serviler Toleranz gegenüber dem russischen Machtgebaren, die in den Ohren der jungen Demokratien Osteuropas zynisch klingen muss. Russland besitzt kein Recht, souveränen Staaten vorzuschreiben, welchen Sicherheitsstrukturen sie sich anschliessen wollen. Sowohl Georgien als auch die Ukraine, unabhängig davon, wie immer man die dortigen politischen Verhältnisse bewertet, sind heute keine sowjetischen Satellitenstaaten mehr.
Die irritierende Langmut Europas mit Moskau hat verschiedene Ursachen. Richtig ist, dass Russland auf absehbare Zukunft ein zu wichtiger Energielieferant ist, als dass sich der alte Kontinent ein dauerhaftes Zerwürfnis mit dem Kreml leisten könnte. Derzeit bezieht Europa mehr als einen Viertel seines Gasbedarfes aus Russland, Tendenz steigend.
Umgekehrt aber ist auch Russland auf europäische Abnehmer angewiesen, selbst dann noch, wenn ein Teil der immensen Reserven eines fernen Tages nach Asien fliessen sollten. Das Land benötigt zudem dringend westliches Wissen und Investitionen für seine wirtschaftliche Modernisierung.
Europas Energiequellen schliesslich liessen sich diversifizieren, die Marktmacht Kreml-gesteuerter Monopolbetriebe in westlichen Ländern – sprich Gazprom – notfalls regulieren. Versorgungskorridore ausserhalb russischer Einflussnahme könnten gebaut und strategisch abgesichert werden. Seit Jahren aber wird in Brüssel an einer gemeinsamen EU-Energiepolitik herumgefeilt; das Nabucco-Milliardenprojekt einer an Russland vorbeigeführten Gaspipeline aus dem kaspischen Becken über die Türkei – deren EU-Integration nicht erst im Lichte der jüngsten Entwicklung von strategischer Bedeutung wäre – harrt weiter einer Umsetzung.
Dass sich Europa im Umgang mit Russland so schwer tut, ist freilich auch der seit dem Ende des Kalten Krieges gewachsenen Sehnsucht vieler Politiker geschuldet, Europa von den USA zu emanzipieren und ein neues Gleichgewicht mit Russland auf der Basis einer strategischen Partnerschaft zu schaffen. Genährt wird diese Ambition von einem auch hierzulande weitverbreiteten Antiamerikanismus, der die ideelle Basis einst unbestritten geteilter Werte wie Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit immer stärker aushöhlt. Nur so ist zu erklären, dass dieser Tage auch wieder der abstruse Vergleich gezogen wird, Russland agiere in Georgien ja eigentlich wie damals die Nato in Kosovo, sprich kompensatorisch und daher «irgendwie akzeptabel». Der Vergleich ist unzulässig, in der Sache und politisch.
Kein neuer kalter Krieg
Wenn das düstere Kapitel jüngster russischer Machtdemonstration für Europa eine Moral hat, dann diese, dass es dringend an der Zeit ist, das zu lange schöngeredete Verhältnis zu Moskau endlich zu entzaubern. Russland versteht sich spätestens seit Beginn der Ära Putin – und das Zwischenspiel der Präsidentschaft Medwedew wird daran absehbar nichts ändern – als euroasiatische Gegenmacht zu den USA und zu Europa, mit neu formulierten imperialen Ambitionen und handfesten geostrategischen Interessen. Die Felder, wo diese aus Sicht des Kremls noch in Einklang stehen mit europäischen und/oder amerikanischen Vorstellungen, sind inzwischen an einer Hand abzuzählen.
Russland verdient den Respekt und das Verständnis des Westens für seine reiche und belastete Geschichte, seine herausragende Kultur, die territoriale Grösse, seinen Ressourcenreichtum und vieles mehr – nicht aber für ein latent aggressives und anti-westliches aussenpolitisches Verhalten, das angeblich durch die «Umzingelungsstrategie» der USA, der Nato und der EU provoziert wird und daher gerechtfertigt erscheint.
Eine solche Haltung einzunehmen, bedeutet nicht, einen neuen kalten Krieg auszurufen, wie er dieser Tage schon düster in Schlagzeilen gegossen wird. Vielmehr folgt eine solche Politik der kritischen Distanz zu Russland der realpolitischen Logik, dass auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts souveräne Staaten und nicht vage Partnerschaften die Neuordnung und Sicherung weltpolitischer und -wirtschaftlicher Einflusssphären vorantreiben. Man wird Moskau nicht verbieten können, sich daran zu beteiligen. Der Westen aber tut gut daran, endlich rote Linien zu definieren, deren Überschreitung auch für Russland einen schmerzhaft hohen Preis fordert.
Die Entzauberung Russlands
Ungeachtet der fast beliebig politisch instrumentalisierbaren Frage, wer denn nun am Südkaukasus am heftigsten in die schon lange glimmende Glut geblasen hat – georgische Generäle, südossetische Separatisten oder russische «Friedenstruppen» –, die militärische Bestrafungsaktion Moskaus gegen Georgien ist unverhältnismässig und spottet allen Grundsätzen eines «partnerschaftlichen» Umgangs mit Europa und den USA.
Vor allem aber hat Moskau über Nacht in Europa neue strategische Realitäten geschaffen, die still hinzunehmen aus westlicher Sicht inakzeptabel, ja längerfristig gefährlich wäre. So sind russische Truppen unter anderem bis nach Gori vorgestossen, der Geburtsstadt Stalins, die im Kernland Georgiens und dicht an der von Baku in Aserbeidschan nach Supsa am Schwarzen Meer führenden Pipeline liegt, die an Russland vorbei Erdöl nach Europa pumpt.
Schmerzliche Erfahrung
Erkannt hat die Tragweite der militärischen Operation mit Verzögerung Washington, das den Ton gegenüber Moskau markant verschärft hat und nun laut über Sanktionen wie den Ausschluss Russlands aus der G-8 oder über dessen Nichtaufnahme in die Welthandelsorganisation nachdenkt.
Paris und Berlin äussern «Besorgnis» und rufen in wattiger Diplomatensprache beide Seiten zur Mässigung auf. Der vom EU-Rats-Präsidenten Sarkozy hastig entworfene Friedensplan wird im Elysée als diplomatischer Erfolg gefeiert; er ist es nicht, denn er verpflichtet Moskau zu nichts, was Russland nach vollbrachter Tat nicht ohnehin zu leisten bereit wäre. Derweil empören sich die osteuropäischen EU- und Nato-Mitglieder. Sie wissen aus schmerzlicher Erfahrung, dass sich Geschichte wiederholen kann – wohl unter anderen Vorzeichen, aber mit ähnlichen Folgen.
Vergeblich hatten sie noch im Frühling in Bukarest um die rasche Aufnahme Georgiens und der Ukraine in das Nato-Mitgliedschafts-Programm geworben. Deutschland und Frankreich waren dazu nicht bereit, aus Rücksichtnahme auf russische Empfindlichkeiten. Washington waren die von Sarkozy zugesagte Truppenaufstockung in Afghanistan und die in Aussicht gestellte vollständige Rückkehr Frankreichs in die Nato-Militärstruktur zu wichtig, als dass es Lust gehabt hätte, einen neuen Streit über die Ausweitung des Bündnisses vom Zaun zu brechen.
Nicht nur in Berlin und Paris dürfte nun die Erleichterung angesichts der jüngsten Ereignisse gross sein, sich im Rahmen der Nato nicht unangenehmen Verpflichtungen auszusetzen. Die osteuropäischen Länder aber, allen voran die Ukraine und Georgien, werden ihren künftigen sicherheitspolitischen Kurs sehr genau auf die Folgen der Krise abstimmen.
Gefährliche Folgen
Bleibt es – was zu befürchten ist – bei diplomatischen Ermahnungen und weiteren wohlklingenden Friedensplänen ohne praktische Relevanz, wird dies Moskau in seiner Einschätzung bestärken, dass es im «nahen Ausland» seine strategischen Interessen durchsetzen kann, sei es mit politischen oder wirtschaftlichen Mitteln, sei es mit der «regulierten» Energieversorgung, sei es mit der Drohung mit oder gar Anwendung von militärischer Gewalt. Letzteres dürfte auch weiterhin die Ausnahme bleiben, weil – wie Figura zeigt – Politiker vom Schlage eines georgischen Präsidenten Saakaschwili sehr rasch die Lust am Kräftemessen verlieren, wenn sie ohne Beistand kämpfen müssen.
Aussichtslos scheint für Georgien nach dem jüngsten Waffengang eine Reintegration Südossetiens und Abchasiens. Die Frage von deren Status wird die Staatenwelt zwar viele weitere Jahre beschäftigen; an der Realität einer faktischen Annexion durch Russland aber wird sich nichts ändern, zumindest so lange nicht, wie damit der Phantomschmerz durch den Verlust an imperialer Bedeutung gelindert werden kann, unter dem Russlands aussenpolitische Machteliten seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion leiden. Ähnliches ist für die Krim und die dort stationierte Schwarzmeerflotte sowie die Lage in Transnistrien in der Moldau zu vermuten. Spüren aber dürften die Folgen auch energieabhängige EU-Mitglieder in geografischer Nähe zu Russland, allen voran Polen, das mit seiner Einwilligung zur Stationierung gegen Iran gerichteter amerikanischer Abfangraketen in der Lesart des Kremls am Freitag einen schweren Fehler begangen hat.
Irritierende Langmut
Die etwa im deutschen Aussenministerium auch dieser Tage fast schon reflexartig wiederholte Formel, man müsse mit Russland «partnerschaftlich» umgehen und dürfe Moskau nicht leichtfertig isolieren, signalisiert eine Form serviler Toleranz gegenüber dem russischen Machtgebaren, die in den Ohren der jungen Demokratien Osteuropas zynisch klingen muss. Russland besitzt kein Recht, souveränen Staaten vorzuschreiben, welchen Sicherheitsstrukturen sie sich anschliessen wollen. Sowohl Georgien als auch die Ukraine, unabhängig davon, wie immer man die dortigen politischen Verhältnisse bewertet, sind heute keine sowjetischen Satellitenstaaten mehr.
Die irritierende Langmut Europas mit Moskau hat verschiedene Ursachen. Richtig ist, dass Russland auf absehbare Zukunft ein zu wichtiger Energielieferant ist, als dass sich der alte Kontinent ein dauerhaftes Zerwürfnis mit dem Kreml leisten könnte. Derzeit bezieht Europa mehr als einen Viertel seines Gasbedarfes aus Russland, Tendenz steigend.
Umgekehrt aber ist auch Russland auf europäische Abnehmer angewiesen, selbst dann noch, wenn ein Teil der immensen Reserven eines fernen Tages nach Asien fliessen sollten. Das Land benötigt zudem dringend westliches Wissen und Investitionen für seine wirtschaftliche Modernisierung.
Europas Energiequellen schliesslich liessen sich diversifizieren, die Marktmacht Kreml-gesteuerter Monopolbetriebe in westlichen Ländern – sprich Gazprom – notfalls regulieren. Versorgungskorridore ausserhalb russischer Einflussnahme könnten gebaut und strategisch abgesichert werden. Seit Jahren aber wird in Brüssel an einer gemeinsamen EU-Energiepolitik herumgefeilt; das Nabucco-Milliardenprojekt einer an Russland vorbeigeführten Gaspipeline aus dem kaspischen Becken über die Türkei – deren EU-Integration nicht erst im Lichte der jüngsten Entwicklung von strategischer Bedeutung wäre – harrt weiter einer Umsetzung.
Dass sich Europa im Umgang mit Russland so schwer tut, ist freilich auch der seit dem Ende des Kalten Krieges gewachsenen Sehnsucht vieler Politiker geschuldet, Europa von den USA zu emanzipieren und ein neues Gleichgewicht mit Russland auf der Basis einer strategischen Partnerschaft zu schaffen. Genährt wird diese Ambition von einem auch hierzulande weitverbreiteten Antiamerikanismus, der die ideelle Basis einst unbestritten geteilter Werte wie Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit immer stärker aushöhlt. Nur so ist zu erklären, dass dieser Tage auch wieder der abstruse Vergleich gezogen wird, Russland agiere in Georgien ja eigentlich wie damals die Nato in Kosovo, sprich kompensatorisch und daher «irgendwie akzeptabel». Der Vergleich ist unzulässig, in der Sache und politisch.
Kein neuer kalter Krieg
Wenn das düstere Kapitel jüngster russischer Machtdemonstration für Europa eine Moral hat, dann diese, dass es dringend an der Zeit ist, das zu lange schöngeredete Verhältnis zu Moskau endlich zu entzaubern. Russland versteht sich spätestens seit Beginn der Ära Putin – und das Zwischenspiel der Präsidentschaft Medwedew wird daran absehbar nichts ändern – als euroasiatische Gegenmacht zu den USA und zu Europa, mit neu formulierten imperialen Ambitionen und handfesten geostrategischen Interessen. Die Felder, wo diese aus Sicht des Kremls noch in Einklang stehen mit europäischen und/oder amerikanischen Vorstellungen, sind inzwischen an einer Hand abzuzählen.
Russland verdient den Respekt und das Verständnis des Westens für seine reiche und belastete Geschichte, seine herausragende Kultur, die territoriale Grösse, seinen Ressourcenreichtum und vieles mehr – nicht aber für ein latent aggressives und anti-westliches aussenpolitisches Verhalten, das angeblich durch die «Umzingelungsstrategie» der USA, der Nato und der EU provoziert wird und daher gerechtfertigt erscheint.
Eine solche Haltung einzunehmen, bedeutet nicht, einen neuen kalten Krieg auszurufen, wie er dieser Tage schon düster in Schlagzeilen gegossen wird. Vielmehr folgt eine solche Politik der kritischen Distanz zu Russland der realpolitischen Logik, dass auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts souveräne Staaten und nicht vage Partnerschaften die Neuordnung und Sicherung weltpolitischer und -wirtschaftlicher Einflusssphären vorantreiben. Man wird Moskau nicht verbieten können, sich daran zu beteiligen. Der Westen aber tut gut daran, endlich rote Linien zu definieren, deren Überschreitung auch für Russland einen schmerzhaft hohen Preis fordert.
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