„Das Wertvollste, was der Mensch besitzt, ist das Leben. Es wird ihm nur einmal gegeben, und er muss es so nützen, daß ihn sinnlos verbrachte Jahre nicht qualvoll gereuen, die Schande einer kleinlichen, inhaltslosen Vergangenheit ihn nicht bedrückt, und daß er sterbend sagen kann: Mein ganzes Leben, meine ganze Kraft habe ich dem Herrlichsten in der Welt – dem Kampf für die Befreiung der Menschheit – geweiht. Und er muß sich beeilen, zu leben. Denn eine dumme Krankheit oder irgendein tragischer Zufall kann dem Leben jäh ein Ende setzen.“
– Nikolai Ostrowski: Wie der Stahl gehärtet wurde. (Wiki.)
Welcher junge Mensch fällt nicht auf diesen quasi-religiösen Ton herein? Dem großen Ganzen zu dienen ist ein genetisches Stammeserbe. Es ist das Substrat, dessen sich Häuptlinge und Führer aller Art bedienen, um ihre Ziele zu verfolgen und ihre Anhänger zu binden. Es ist die wichtigste Grundlage für totalitäre Sekten und totalitäre Bewegungen.
Natürlich ist „Das Wertvollste, was der Mensch besitzt, das Leben.” Aber nicht, um außer sich zu gehen, sondern um der zu werden, der er ist. Seine Genetik bestimmt in hohem Maße auch seine Persönlichkeit, die er nur entwickeln und für sich sinnvoll abrunden kann. Und sollte. Den Sprachinstinkt hat er geerbt, aber die spezifische Sprache muß erlernt werden. Und dabei muß er auch seine Grenzen erfahren und erkennen. Sprechen lernen kann jeder, ein guter Sprecher werden aber nicht. Zwischen seinem individuellen genetischen Erbe und dessen spezifischen Entwicklungsmöglichkeiten muß der Mensch sich hineintasten und hineinfinden in seine Umwelt. Die produktiven Angebote muß er wahrnehmen, die destruktiven, aber hübsch eingepackten wie dem “Kampf für die Befreiung der Menschheit” u.ä. muß er als Phrase erkennen und vermeiden. Eine schwierige Sache, wenn die Umwelt totalitär gestimmt ist. Oder auch nur kollektivistisch vereinnahmen will.
Die Persönlichkeit setzt Goethe ins Wirkungszentrum:
" Volk und Knecht und Überwinder,
Sie gestehn zu jeder Zeit:
Höchstes Glück der Erdenkinder
Sei nur die Persönlichkeit.
Jedes Leben sei zu führen,
Wenn man sich nicht selbst vermisst;
Alles könne man verlieren,
Wenn man bliebe, was man ist. "
Suleika, Buch Suleika, Gingo biloba, S. 95
Doch gibt es diese breite Zustimmung, die Goethe hier listig konstatiert, nur als Aufgabe, sie ist leider weder beim “Knecht” noch beim “Überwinder” verbreitet. Eher findet man den Herdentrieb vor. Da verbiegt sich mancher, um in der Herde zu laufen. Obwohl das nur schlecht gelingen kann:
“Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen,
Die Sonne stand zum Gruße der Planeten,
Bist alsobald und fort und fort gediehen
Nach dem Gesetz, wonach du angetreten.
So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen,
So sagten schon Sibyllen, so Propheten;
Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt
Geprägte Form, die lebend sich entwickelt."
Goethe, Urworte orphisch, Dämon
Die astrologische Metaphorik kann mühelos genetisch gefaßt werden und wird dann noch deutlicher:
“So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen”.