Mittwoch, 23. März 2022

Welchen Einfluß hat das Milieu und haben die Zeitverhältnisse?

Goethe hat dem in seiner Autobiographie nachgespürt:

“Denn dieses scheint die Hauptaufgabe der Biographie zu sein, den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen, und zu zeigen, inwiefern ihm das Ganze widerstrebt, inwiefern es ihn begünstigt, wie er sich eine Welt- und Menschenansicht daraus gebildet, und wie er sie, wenn er Künstler, Dichter, Schriftsteller ist, wieder nach außen abgespiegelt. Hiezu wird aber ein kaum Erreichbares gefordert, daß nämlich das Individuum sich und sein Jahrhundert kenne, sich, inwiefern es unter allen Umständen dasselbe geblieben, das Jahrhundert, als welches sowohl den Willigen als Unwilligen mit sich fortreißt, bestimmt und bildet, dergestalt, daß man wohl sagen kann, ein jeder, nur zehn Jahre früher oder später geboren, dürfte, was seine eigene Bildung und die Wirkung nach außen betrifft, ein ganz anderer geworden sein.”  

Goethe, Johann Wolfgang. Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit (S.2-3). Zenodot Verlagsgesellscha. Kindle-Version. 


Wirklich? “Zehn Jahre früher oder späte

r geboren, dürfte (er), was seine eigene Bildung und die Wirkung nach außen betrifft, ein ganz anderer geworden sein.” Ein ganz anderer?

Es gab bei Goethe tatsächlich recht bedeutsame Ereignisfenster, die Gleichaltrigkeit mit Carl August etwa, die zu der Einladung nach Weimar führte, und auch Schillers Zuzug nach Weimar 1787. Weimar bot Goethe einen Entfaltungsraum, den er in Frankfurt so nicht gehabt hätte. Doch wäre er tatsächlich “ein anderer geworden”? 

Kaum. Denn seine Persönlichkeitseigenschaften, wie sie ihm genetisch von den Eltern mitgegeben waren, hätten sich an jedem anderen Ort ganz ähnlich entwickelt, als da zum Beispiel sein Hang zum Wissen und zum Schreiben sind. Und natürlich gewährte ihm die genetische Mitgift der Eltern und Großeltern ein gesundes, langes Leben, des Schiller entbehrte mit seiner kurzen Lebensspanne von 1759 bis 1805. Schiller kam nicht in den Genuß der Jahrzehnte für ein Spätwerk, wie es Goethe schuf.  


Es gilt also mehr, genetisch gewendet:


Goethe – Urworte. Orphisch ΔΑΙΜΩΝ, Dämon. 

Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen, 

Die Sonne stand zum Gruße der Planeten, 

Bist alsobald und fort und fort gediehen, 

Nach dem Gesetz wonach du angetreten. 

So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen, 

So sagten schon Sibyllen, so Propheten; 

Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt 

Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.