Sonntag, 28. Oktober 2012

Newtons Testosteron und Mutter Theresas Oxitocin











Was tun? 
Das entscheidet das Zwischenhirn. Genauer eine Struktur darin, das Limbische System, darin das Bewertungssystem und das Belohnungssystem. Das Bewertungssystem verteilt Noten für verschiedene Handlungsmöglichkeiten aus dem Archiv des Belohnungssystems. Wenn sich nach der Handlung ein gutes Gefühl einstellt, die Belohnung also, am Ende steht immer das gute Gefühl als die Belohnung, dann haben die beiden gut zusammengearbeitet, unabhängig davon, ob es um den Genuß von Schokolade geht, um Almosengeben, um einen Waldlauf oder die Tötung eines Konkurrenten hinter der Hominidenhöhle. Im letzteren Fall wird eventuell noch das Gehirn des Getöteten in der Gruppe rituell verspeist, was die Handlung dann auf die Gruppenebene hebt und im Gruppenbewußtsein positiv verankert. So war das noch vor hundert Jahren bei den Marind-anim (Tugeri) auf Neuguinea. Junge Marind-anim übernahmen durch ihre Sozialisation die positive Bewertung solcher Handlungen durch die Gruppe in ihr individuelles Bewertungs- und Belohnungssystem, wodurch es für ihre Handlungsauswahl leitend wurde. 

Das extreme Beispiel mag aufzeigen, daß es ein "moralisches Gefühl" als einen festen Wert, wie sich das Kant vorgestellt hat, nicht gibt. Vielmehr sind historische Sitten und Gebräuche der Herkunftsgruppen das Fundament für individuelle Verhaltensleitung. 
Das gilt auch für das Phänomen des "altruistischen" Verhaltens. Comte wollte damit eine Unterscheidung zu 'Egoismus' treffen. In pragmatischer Hinsicht erscheint das einleuchtend, um stark unterschiedliche Verhaltenweisen zu erfassen, etwa die persönlich unangenehmen, unfreundlichen Handlungen eines Isaak Newton mit niedrigem Oxitocinspiegel, und die fürsorglichen Handlungen der rumänischen Nonne Theresa. Die Unterscheidung hilft aber nur im persönlichen, familiären, im Kleingruppenbereich, um vielleicht asoziales Verhalten zu benennen. Denn obwohl Newton ein unangenehmer Knilch war, hat er doch durch seine Arbeiten in der klassischen Mechanik vielen Menschen sehr genützt, obwohl ihm diese Absicht fernlag. Natürlich hat auch die Nonne Theresa vielen anderen Menschen im ganz anderen Rahmen ihrer geistigen Fähigkeiten Nutzen verschafft. Beide haben sich nützlich verhalten, aber auf außerordentlich verschiedene Weise. Die Begriffe Altruismus/Egoismus stoßen hier an Grenzen sinnvoller Verwendung. 
Ein Beispiel F.A.v. Hayeks relativiert die Bedeutung der Altruismus-Egoismus-Unterscheidung weiterhin. Der findige Handwerker der Vorzeit, der sein Produkt, statt in der eigenen Gruppe zu tauschen, hinausbringt aus der eigenen Siedlung und um eines höheren Preises willen bei Fremdgruppen verkauft, bereichert sich persönlich und stiftet gleichzeitig Handelsbeziehungen und friedlichen Austausch, wo vorher nur Überfall und Raub zwischen Nachbargruppen, Klans und Stämmen herrschten. Hayek greift dafür den altgriechischen Begriff "Katallaxie" auf, der soviel bedeutet wie "durch Handel einen Freund machen". 
Die Bedeutung überindividueller Muster und Marktverfassungen für den Nutzen der Einzelnen und der Gesellschaft wird auch in einem vierten Beispiel deutlich. Die Versteigerung der UMTS-Lizenzen im Jahr 2000 erbrachte für die Staatskasse rund 100 Mrd. DM. Eine riesige Summe für die blaue Luft über Deutschland, die die bietenden Firmen an den Rand des Ruins brachte und die Errichtung der UMTS-Netze für Jahre verzögerte. Damit entstand Unternehmen und Bürgern ein Schaden durch verspätete Einführung einer fortgeschrittenen Technik, die zudem die hohen Telefontarife der alten Mobilfunk-Technik hoch hielt. Der staatliche Versteigerer, der keinerlei Leistung einbrachte, schadete damit den privaten und gewerblichen Mobilfunk-Kunden. Er handelte im Sinne des Begriffs "Egoismus", er preßte ohne Gegenleistung so viel aus den Unternehmen heraus, wie er konnte, obwohl staatliches Handeln an den Begriff des "Gemeinwohls" gebunden sein soll. 

Diese Begriffe entziehen sich jedoch einer klaren Füllung, weswegen sie schon früh das geworden sind, was sie vor allem auszeichnet: moralische Erziehungs- und Kampfbegriffe ohne rechten Bezeichnungswert.  
Handelnde verhalten sich nach Mustern, die teilweise angeboren sind, meist aber einen historisch-kulturellen Hintergrund besitzen. Eine eindeutige Bewertung fällt schwer, insbesondere in modernen Gesellschaften mit vielen überindividuellen und abstrakten Verhaltensregulierungen. "Das Wohl der anderen" kann meist nur in sehr simplen Fällen eindeutig bestimmt werden. Etwa behauptet die Bindungsforschung (Bowlby u.a.), die Verhaltensforschung (Hassenstein u.a.) sowie die Kindermedizin (Largo u.a.), daß der extrem unselbständige menschliche Säugling in den ersten Jahren der stabilen, persönlich interessierten Interaktion bedarf, in der Regel mit der Mutter mit ihrem für die Situation eingestellten Oxitocinspiegel. Dies entspricht auch anthropologischen Einsichten (Wickler, Seibt, Eibl-Eibesfeldt u.a.) Trotzdem werben aber zahlreiche Agenten in Politik, Journalismus, Feminismus und Wirtschaftsverbänden für eine frühe Fremdbetreuung. Das Wohl eines Säuglings, obwohl altbekannt, wird also in einer bestimmten gesellschaftlichen Situation nicht anerkannt, von vielen Akteuren offenbar auch nicht erkannt. 
Ein weiterer Grund, die Altruismus-Egoismus-Unterscheidung mit dem fiktivem "Das Wohl der anderen" aufzugeben?