Mittwoch, 6. August 2008
Kleine Anthropologie
Schöner Sommertag: 17-26° s
- Kleine Anthropologie I : FAZ-Mejias (geborener Peter Hammel) meldet aus New York, daß dort diesen Sommer Wollmützen bei sonst spärlicher Bekleidung große Mode bei Männern sind.
- Kleine Anthropologie II: Im WDR irrlichtert das Gute in jeder Ecke, und einer der gütesten Moderatoren dort sorgt im Zeitzeichen immer wieder, mit albernen Schüleranimationen und Kindersprache, für saubere Weltsicht. Da trifft es auch, wenn das Datum will, den „alten Onkel Albert“. Wir erfahren vom Saubermann, daß „der alte Onkel Albert“ „privat kein Genie gewesen ist“.
Das hat vermutlich auch noch nie jemand behauptet, allerdings besteht die Tendenz in der Heldenverehrung, und dazu neigen alle gesellig lebenden Tiere, dem Häuptling oder Helden, wenn er sich erst einmal an die Spitze gebissen und dort längere Zeit, gar Jahrzehnte behauptet hat, besonders große, „geniale“ Fähigkeiten zuzuschreiben, die gern auf alle Bereiche der Persönlichkeit ausstrahlen. Darauf zielt unser guter Saubermann, er teilt die verbreitete Fehlsicht auf den Menschen, der gern aus einem Guß vorgestellt wird, und nicht aus "krummem Holz geschnitzt", wie Kant metaphorisch meinte.
Deswegen sei hier einmal für alle Katheder-Philosophen, Lyriker, Moderatoren, Sportsfreunde, Käseverkäufer und Fußballer festgestellt: der Mensch ist modular aufgebaut, die Systeme unter der Schädeldecke arbeiten recht unabhängig voneinander, und in den letzten dreißigtausend oder hunderttausend Jahren hat sich die Hirnarchitektur nicht verändert. Der Hirnstamm ist immer noch der alte, das Limbische System bewertet immer noch nach Maßgabe der Leidenschaften, das Kleinhirn kümmert sich um Laufen, Schwimmen, Fahrradfahren, und die dünne Hirnrinde oben drauf speichert allerhand Kulturkram und Biographie. Das ist etwas vereinfacht und unvollständig, aber dafür deutlich. Das Limbische System ist sehr dominant: Nahrung, Sex, Siegen, diese drei, haben Vorfahrt. Die Hirnrinde kann NEIN sagen, vom Rande her, aber nur, wenn das lange Jahre trainiert wurde, und sie wird trotzdem oft überhört. Anders ausgedrückt: Wenn dem „alten Onkel Albert“ mit dem Unterrock gewinkt wird, dann vergißt der leicht alle Relativität. Und manche jungen Spunde und alten Knacker fressen und saufen sich voll und sehen den anderen gern beim Sex, Siegen oder Verlieren zu; wie sie vom Nanga Parbat fallen oder Weltrekord laufen. Das wird sich nicht ändern. Das Limbische System wird sehr dominant bleiben. Die Leidenschaften werden herrschen. Moderat oder hemmungslos, je nach Trainingslage und genetischen und sozialen Rahmenbedingungen. Das Alter mindert manches. Deswegen sollten Wahlgrenzen möglichst hoch angesetzt werden. Daß der Verstand erst mit den Jahren kommt, glaubt man erst, wenn die Jahre da sind. Will heißen: wenn sich die Hormonspiegel senken, findet die Großhirnrinde eher Gehör. Der Saubermoderator meint also gar nicht „den alten Onkel Albert“, er meint den im vollen Hormonsaft stehenden jungen Albert. Der alte hätte sich den Tadel unseres Saubermannes mutmaßlich nicht mehr zugezogen (wiewohl auch Alter nicht automatisch vor Torheit schützt). Allerdings finden die Saubermänner dieser Welt immer etwas zum Klatschen und Tratschen. Auch das ist so Menschenart.
- Kleine Anthropologie III: " Briefe aus dem Gefängnis.
Liebe Mama, ich muss wissen, ob Du schuldig bist.
Manche Eltern rieten ihren Kindern nach der Verhaftung, sich von ihnen loszusagen, um ihre gesellschaftlichen und beruflichen Aussichten nicht zu gefährden. Olga Adamowa-Sljusberg lernte 1937 im Gefängnis von Kasan eine Frau kennen, die Lisa hieß und vor der Revolution in Sankt Petersburg aufgewachsen war. Sie hatte ihre Kindheit auf der Straße verbracht, denn ihre Mutter war Bettlerin. Nach 1917 arbeitete Lisa in einer Fabrik. Sie trat in die Partei ein und heiratete einen bolschewistischen Funktionär, der der Betriebsleitung angehörte. Die beiden lebten gut zusammen und erzogen ihre Töchter - Soja, die ältere, und Ljalja, die jüngere - zu musterhaften Pionierinnen.
"Manchmal fand in der Fabrik eine Kindermatinee statt", erzählte Lisa, dann stand unsere kleine Soja auf und sang in ihrem Seidenkleid mit dem Pionierhalstuch, und mein Mann sagte immer: "Es gibt kein Mädchen auf der Welt, das besser ist als unsere Soja. Sie wird eine Volkskünstlerin werden, wenn sie erwachsen ist." Dabei fiel mir ein, wie ich als Kind von Tür zu Tür gezogen war . . . Und ich liebte unsere Sowjetregierung so sehr, dass ich mein Leben für sie hingegeben hätte."
Lisas Mann wurde als Anhänger Sinowjews verhaftet. ("Wenn ich gewusst hätte, dass er Lenin verraten hat, hätte ich ihn eigenhändig erwürgt", sagte Lisa.) Dann wurde sie ebenfalls inhaftiert. Einmal erhielt Lisa einen Brief von Soja. Er traf am späten Samstag ein, dem Tag, an dem Häftlinge ihrerseits schreiben durften. Lisa saß gerade über einem Brief. "Liebe Mama, ich bin nun fünfzehn Jahre alt und möchte dem Komsomol beitreten. Deshalb muss ich wissen, ob Du schuldig bist oder nicht. Immer wieder denke ich: Wie konntest Du unsere Sowjetmacht verraten? Schließlich ging es uns so gut, und Du und Papa wart Arbeiter. Ich erinnere mich, wie schön unser Leben war. Du hast Seidenkleider für uns geschneidert und uns Süßigkeiten gekauft. Hast Du das Geld wirklich von ,ihnen'" - gemeint sind die "Volksfeinde" - "bekommen? Es wäre besser gewesen, wenn Du uns in Wollkleidern hättest herumlaufen lassen. Aber vielleicht bist Du gar nicht schuldig? Dann werde ich dem Komsomol nicht beitreten und ihnen Deinetwegen niemals verzeihen. Wenn Du doch schuldig bist, dann werde ich Dir nicht mehr schreiben, denn ich liebe unsere Sowjetregierung und hasse ihre Feinde. Und ich werde Dich hassen, wenn Du zu ihnen gehörst. Mama, sag mir die Wahrheit. Am liebsten wäre es mir, wenn Du unschuldig bist, obwohl ich dann dem Komsomol nicht beitreten kann. Deine unglückliche Tochter Soja."
Lisa hatte bereits drei der vier erlaubten Seiten für den Brief verbraucht, den sie an Soja schrieb. Sie überlegte einen Moment lang und bedeckte die letzte Seite mit mächtigen Großbuchstaben: "Soja, Du hast recht, ich bin schuldig. Tritt dem Komsomol bei. Dies ist das letzte Mal, dass ich Dir schreibe. Seid glücklich, Du und Ljalja. Mutter."
Lisa zeigte Olga die beiden Briefe und schlug dann mit der Stirn auf die Tischplatte. Tränenerstickt sagte sie: "Es ist besser, wenn sie mich hasst. Wie soll sie ohne den Komsomol leben - als Fremde? Sie würde die Sowjetmacht hassen. Es ist besser, wenn sie mich hasst." Von diesem Tag an, erinnert sich Olga, "ließ Lisa nie mehr ein Wort über ihre Töchter fallen und erhielt keine Briefe mehr".
Text aus "Die Flüsterer: Leben in Stalins Russland" von Orlando Figes, das am 9. August im Berlin Verlag erscheint (1088 S., 34 [Euro]). FAZ 26.7.
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