Senecas Trostschrift
an Marcia
II. (1.) Ich weiß,
daß Alle, die Einen ermahnen wollen, mit Lehren anfangen und mit Beispielen
aufhören. Bisweilen [aber] ist es gerathen, diese Sitte zu ändern; denn mit dem
Einen muß man anders verfahren, als mit dem Andern. Manche lassen sich durch Vernunftgründe
leiten; Manchen muß man berühmte Namen entgegenhalten und ein Ansehen, das den
Geist des durch blendende Erscheinungen Betroffenem nicht sich selbst überläßt.
(2.) Zwei der größten Muster sowohl deines Geschlechts als deiner Zeit will ich
dir vor Augen stellen, das eine einer Frau, die sich dem Zuge ihres Schmerzes
hingab, das andere einer solchen, die, von gleichem Unfall und noch größerem
Schaden betroffen, dennoch dem Unglück keine lange Herrschaft über sich
gestattete, sondern ihr Gemüth schnell in seine [ruhige] Lage zurückversetzte. Octavia und Livia, jene die Schwester, diese die Gemahlin des Augustus verloren
beide im Jünglingsalter stehende Söhne, beide in der sichern Hoffnung, daß sie
einst Herrscher sein würden. (3.) Octavia den Marcellus, auf dessen Schultern
sich der Oheim und Schwiegervater zu stützen, dem er die Last der Regierung
aufzulegen begonnen hatte, einen Jünglinn feurigen Geistes und gewaltigen
Talentes,[8] aber von einer bei solchem Alter und
bei solchen Mitteln nicht wenig zu bewundernden Enthaltsamkeit und
Selbstbeherrschung, Anstrengungen gewachsen, den Wollüsten abhold und bereit,
Alles zu tragen, was der Oheim ihm auflegen und, mich so auszudrücken, auf ihn
bauen wollte. Er hatte sehr gut einen Grund gewählt, der keiner Last nachgeben
würde. (4.) Die ganze Zeit ihres Lebens hindurch machte sie ihren Thränen,
ihren Seufzern kein Ende, und lieh keinen Worten ihr Ohr, die etwas Heilendes
brachten. Nicht einmal davon abrufen ließ sie sich; [nur] auf den einen
Gegenstand achtend und mit ganzer Seele daran gefesselt, blieb sie ihr ganzes
Leben lang so, wie sie beim Begräbniß gewesen war, und geschweige, daß sie
gewagt hätte, sich zu erheben, verschmähte sie es auch, sich aufrichten zu
lassen, und hielt es für ein zweites Verwaistsein, sich der Thränen zu
enthalten. Kein Bild des theuern Sohnes wollte sie besitzen, nie desselben
Erwähnung gethan hören. (5.) Sie haßte alle Mütter und war besonders auf Livia wüthend,
weil das ihr verheißene Glück auf deren Sohn
übergegangen zu sein schien. Mit der Dunkelheit und Einsamkeit vertraut und
selbst ihrem Bruder keinen Blick schenkend, verschmähte sie die zur Feier von
Marcellus Andenken verfaßten Gedichte und andre Ehrenbezeigungen der
Zuneigungen und verschloß ihre Ohren jedem Troste. Sich zurückziehend von den
herkömmlichen Beileidsbezeugungen, und selbst das die Größe ihres Bruders
allzusehr umglänzende Glück hassend, vergrub und verbarg sie sich. Während
Kinder und Enkel bei ihr saßen, legte sie doch das Trauerkleid nie ab, nicht
ohne Beleidigung für alle die Ihrigen, bei deren blühendem Leben sie sich doch
verwaist vorkam.
III. (1.) Livia hatte
ihren Sohn Drusus verloren, der ein großer Fürst geworden sein würde und
bereits ein großer Feldherr war. Er war tief in Germanien eingedrungen, und die
Römer hatten [unter ihm] ihre Fahnen da aufgepflanzt, wo es kaum bekannt war,
daß es irgend welche Römer gebe. Auf[9] dem
Feldzuge war er als Sieger gestorben, indem die Feinde selbst ihm in seiner
Krankheit Verehrung und gegenseitige Friedfertigkeit bewiesen und nicht zu
wünschen wagten, was ihnen [doch] frommte. Es begleitete seinen Tod, den er für
den Staat erlitten hatte, das größte Bedauern der Bürgen, der Provinzen und
ganz Italiens, durch welches, da alle Municipien und Colonien zu dem
Trauerdienste herbeiströmten, seine Leiche fast wie in einem Triumphzuge bis in
die Stadt geführt wurde. (2.) Der Mutter war es nicht vergönnt gewesen, die
letzten Küsse des Sohnes und die lieben Worte des sterbenden Mundes
aufzufangen. Eine weite Strecke hatte sie die irdischen Ueberreste ihres Sohnes
begleitet, aber, obgleich durch so viele in ganz Italien brennende
Scheiterhaufen so aufgeregt, als müßte sie ihn eben so oft verlieren, begrub
sie doch, sobald sie ihn in den Grabhügel versenkte, mit ihm zugleich auch
ihren Schmerz und trauerte nicht mehr, als es anständig war beim [Tode] eines
kaiserlichen Prinzen oder gebührend [gewesen wäre] beim [Tode] irgend eines
Andern. Ferner hörte sie nicht auf, den Namen ihres Drusus zu feiern, sich ihn
überall zu Hause und öffentlich zu vergegenwärtigen, sehr gern von ihm zu
sprechen und von ihm sprechen zu hören, da kaum irgend ein Mensch das Andenken
an einen Andern bewahren und öfters erneuern kann, der es sich zu einem
traurigen gemacht hat. – (3.) Wähle also, welches von[10] diesen
beiden Beispielen du für lobenswerther halten willst: willst du dem ersteren
folgen, so schließest du dich aus der Zahl der Lebenden aus; du wirst sowohl
gegen andere Kinder, als gegen deine eigenen Abneigung fühlen und dich [blos]
nach ihm sehend [allen] Müttern als eine [Erscheinung von] traurigen
Vorbedeutung entgegen treten. Ehrbare und erlaubte Freunden wirst du, als nicht
anständig genug für dein Geschick, zurückweisen, von einem dir verhaßten Leben
wirst du festgehalten werden, erbittert gegen dein Alter, daß es dich nicht
jählings vernichte und ein Ende machte, und was sehr schimpflich und deiner von
einer bessern Seite bekannten Gesinnung ganz widersprechend ist, du wirst
zeigen, daß du nicht leben magst und doch nicht sterben kannst. (4.) Hältst du
dich [dagegen] an das letztere [viel] gemäßigtere und mildere Beispiel jener so
großen Frau, so wirst du ohne Trübsal sein und dich nicht in Qualen abhärmen.
Denn welch' ein Unsinn ist es, sich selbst für sein Unglücklich zu strafen und
seine Leiden zu vermehren! Du wirst die Tüchtigkeit und Ehrbarkeit des
Charakters, die du in deinem ganzen Leben behauptet hast, auch in diesem Falle
bewähren. Selbst bei der Trauer über jenen Jüngling gibt es ein gewisses Maß;
indem du immer von ihm redest, immer an ihn denkst, wird er dir die würdigste
Ruhe verschaffen. Du wirst ihm eine höhere Stelle anweisen, wenn er seiner
Mutter so, wie er es im Leben pflegte, heiter und mit Freude entgegen tritt.
...“
Seneca, Trostschrift
an Marcia, anläßlich des Todes ihres Vaters Aulus Cremutius Cordus 31 in Rom,
nach mutmaßlicher Verfolgung durch den Prätorianerpräfekten Sejanus; Text auf zeno.org