Freitag, 29. Oktober 2010

"Gebot zu vergessen"






Eine südliche Strömung lockt den Igel noch einmal aus seinem Winterquartier; vor der Haustür hinterläßt er gern etwas als Gruß von Art zu Art




- Picht, Latein- und Griechischlehrer sowie Platon-Zettelkasten-Anleger vermeinte, das Studium der Humaniora führe zum Heil.

Sehen wir einmal nach. Gerade hat der Althistoriker Meier einen Essay veröffentlicht, darin reflektiert er das antike "Gebot zu vergessen" (Chr. Meier, Siedler 2010):

" 494 vor Christus entfachte eine Tragödie über die Zerstörung der Stadt Milet durch die Perser eine so große Diskussion unter den Bürgern Athens, dass sie umgehend von der Bühne genommen wurde. Das Leid von Milet sollte auf gar keinen Fall öffentlich memoriert werden. Am Ende des Jahrhunderts, nach der Niederschlagung der sogenannten Tyrannis der Dreißig in Athen, wurde das Gebot zu vergessen dann erstmals rechtskräftig. Nach zeitgenössischen Berichten wurden damals zweieinhalbtausend Menschen ermordet, unter ihnen 1500 Bürger im rechtlich-politischen Sinn, das entsprach fünf Prozent der Athener Bürgerschaft. Mit dem Beschluss, diese Vergangenheit ruhen zu lassen und nicht mehr öffentlich an sie zu erinnern, sollten mögliche Rachefehden verhindert werden. Und damit neue Bürgerkriege. Dieses Rechtsverständnis hat die europäische Geschichte mehr als zwei Jahrtausende lang geprägt."

1918 galt das bei dem Versailler Diktatfrieden nicht mehr, worauf Lloyd George (ab 1916 englischer Premierminister) bereits 1919 feststellte: "Wir haben ein schriftliches Dokument, das uns Krieg in zwanzig Jahren garantiert." (Dieses Zitat wird auch Marschall Foch zugeschrieben, Golo Mann zitiert ähnlich einen amerikanischen Journalisten, s. G.M., Dt. Geschichte, S. 671ff.)
Das war ein Fehler. Ob es immer ein Fehler ist, die antike Methode des Vergessens nicht zu praktizieren, sei dahingestellt. Man wird wohl von Fall zu Fall spezifisch entscheiden müssen, vielleicht mit der Folie attischer Geschichte im Hintergrund, was aber dem Herrn Picht in dieser Frage gar nicht gefallen hätte. (Vgl. Schmoll, FAZ 6.10.10, Zettel- und Setzlingsarbeit gegen Bildungskatastrophe)

Wie stehts mit Platon? Platon war Pichts besonderes Steckenpferd. Wie sieht zB Platon Tyrannis und Demokratie?

"Wohlan denn, mein lieber Freund, welches ist der Charakter der Tyrannis? Denn was ihre Entstehung anlangt, so ist so viel gewiß, daß sie aus der Demokratie durch deren Ausartung vor sich geht.
Ja, gewiß.
Entsteht also nicht auf dieselbe Weise, wie Demokratie aus Oligarchie, so Tyrannis aus Demokratie?
Wie denn?
Was die Oligarchie, sprach ich, sich als das größte Gut vorsteckte und wodurch sie auch zustande kam, das war doch Reichtum, nicht wahr?
Ja.
Der unersättliche Hunger nach Reichtum also und die Vernachlässigung aller anderen Dinge um des Gelderwerbs willen waren ihr Verderben?
Richtig, sagte er.
Nicht wahr, auch die Unersättlichkeit in demjenigen Gute, was sich die Demokratie als Ziel bestimmt, richtet auch diese zugrunde?
Welches Gut bestimmt sie sich aber nach deiner Meinung als Ziel?
Die Freiheit, antwortete ich; denn davon wirst du in einem demokratisch regierten Staate immer hören, wie sie das allerschönste Gut sei, und wie deshalb in solchem Staate allein ein Freigeborener würdig leben könne.
Ja freilich, sagte er, gar oft wird diese Sprache geführt.
Ist hiernach, fuhr ich fort, anzunehmen - das ist nun die Frage, die ich vorhin folgen lassen wollte -, daß die Unersättlichkeit in diesem Gute (der Freiheit) auch diese Verfassung umwandelt und in die Lage versetzt, daß sie eines Tyrannen bedürftig wird?"
(Platon, Staat, 8. Buch XIII-XIV; s. snipurl.com/1dbmdz)

Die Diktatur wird nötig, weil die Demokratie der Freiheit keine Grenzen setzt, "und es bleibt nicht allein, fuhr ich fort, bei diesen Freiheitserscheinungen, sondern es ereignen sich auch noch andere Kleinigkeiten folgender Art: Der Lehrer fürchtet und hätschelt seine Schüler, die Schüler fahren den Lehrern über die Nase und so auch ihren Erziehern." (Pl., ebd.)

Eine "Elementarlehre des ganzen menschlichen Daseins" hat Picht die griechisch-römische Antike genannt, und Platons Demokratie-Kritik zu kennen, kann nicht schlecht sein, sie zu bedenken, ebenfalls nicht, doch gibt es sehr viel Bedeutenderes zur Sache, Francis Bacon etwa, Montesquieu, Röpke, Hayek (Die Verfassung der Freiheit, 1971).

Kluge antike Autoren zu lesen, so weit kann man Picht zustimmen, regt an zu Vergleich und Urteil; der Antike aber einen zu großen Platz einzuräumen, kann sich so dumm auswirken wie bei Picht selbst: er wurde zu einem verwirrten Bildungsideologen, der zu allem und jedem schwadronierte.


- Nach den von Picht verlangten Bildungsreformen: ' Den Unterricht in seiner Klasse beschreibt derselbe Hauptschullehrer so: "Spätestens nach der zweiten Unterrichtsstunde erwarten mich meist ein Chaos von Unruhe, Störungen jeglicher Art, Gezanke, Gezerre, Aggressionen, Tritten, Tränen; Beleidigungen, Hyperaktivität, Impulsivität und eine sexualisierte Drohsprache. Einzelheiten werden im Unterricht nicht beachtet, ohne Ende müssen Flüchtigkeitsfehler korrigiert werden, fast kaum ein Kind der gesamten Klasse kann richtig von der Tafel abschreiben, und an der ständig mangelnden Daueraufmerksamkeit sehr vieler Kinder scheitern Ermahnungen, Lob und Tadel. Einige Kinder führen Aufträge nie zu Ende, zappeln fast immer, lenken andere oder oft die ganze Klasse in einer Unterrichtsstunde mehrmals ab und lassen sich selbst wiederum von anderen immer ablenken. Es gibt Kinder, die laufend aufstehen und in der Klasse herumlaufen oder sogar eigenmächtig den Klassenraum verlassen und einfach nach Hause gehen, weil ihnen irgend etwas nicht paßt." ' FAZ 20.4.02