"Moral ist für den Mittelstand: Die Reichen brauchen sich nicht dran zu halten und die Armen können es nicht."
Das wird Oscar Wilde zugeschrieben. Hört sich auch so an. Sieht seiner Denkart ähnlich. Und paßt auch zu seinem Leben, cum grano salis.
Mit seinem extravaganten Lebensstil und seinem Esprit hatte er Erfolg, konnte ihn aber nicht halten. Begütert von Herkunft und Heirat zählte er wohl zu den Reichen und leistete sich den Luxus, Moral großzügig zu übergehen. Zu seiner Zeit - ganz anders als heute - bestand die Moral zu einem guten Teil aus Sexualmoral aus der christlichen Dunkelkammer. Für homosexuelle Abweichungen hatten die monotheistischen Dunkelmänner kein Verständnis, auch nicht im großen London, des Iren Wildes gewählter Wohnort. Der Mittelstand - soweit kann man dem Aphorismus folgen, ist der bevorzugte Adressat der Moralapostel, weil er wortgläubig ist und um seine Reputation besorgt. “Ist der Ruf erst ruiniert”, so heißt es, “lebt sich’s völlig ungeniert.” Das stimmte damals tatsächlich für die Begüterten und die Unterklasse. Heute aber, so scheint es, bemühen sich alle vom reichen Bill Gates bis zum armen Schüler und Studenten - arme Arbeiter gibt es nicht mehr - um das Gutmenschentum. Und selbst die Gesetze ziert dieser Geist: Respekt-Rente-Gesetz und Gute-Kita-Gesetz sollen für die güteste aller Zukünfte in Deutschland sorgen. Die Sexualität wurde umgewidmet zur guten Sache, eingerückt ist dafür der gute Klimaschutz.
Wenn das Oscar noch erlebt hätte!
(Foto von 1889 aus Wikip.)