Donnerstag, 13. Dezember 2012

Sprach- und Mentalitätsgräben





Heimeliger Kommissionssitz in Brüssel

(Bild: EU-Kommission)





Das Dorf war das Heim und, von “Heim” später abgeleitet, die Heimat. Das althochdeutsche und mittelhochdeutsche “heim” hat sich gehalten in Städtenamen wie “Mannheim” und auch “Bochum”. Jahrhundertelang kamen die Menschen kaum aus ihren Heimatdörfern heraus, Wanderungsbewegungen durch Notlagen ausgenommen. Das Dorf bot alles, was der Mensch brauchte, von der materiellen Versorgung bis hin zu Gesellschaft und Tradition. Das Aufwachsen in einem geschützten und bewährten Raum, die Gewohnheit und die Einbindung in Arbeitsteilung und Familie mündeten in ein Verbundenheitsgefühl namens “Heimatgefühl”. Dies ist auch in abgeschwächter Form heute noch der Fall, in Zeiten der Mobilität, wie es in der Wendung “I’ve been East, I’ve been West, home is best” zum Ausdruck kommt.
Bei anderen Tieren ist das, nicht immer, aber oft sehr stark ausgeprägt: der Lachs laicht dort, wo er selbst das Ei verließ, der Storch baut gerne jedes Jahr auf dem gleichen Schornstein sein Nest und Tauben kehren über lange Strecken zu ihrem Heimatschlag zurück.
Bei Menschen sind die Grade des Heimatgefühls recht verschieden ausgeprägt, in abgeschlossenen Dörfern am Amazonas sehr viel stärker als in Dörfern an Handelswegen wie dem Rhein, und Städte mit ihrem schnelleren sozialen Wandel bringen weniger Sozialbindung und Heimatgefühl hervor.
Doch auch individuell fällt dieses Gefühl recht unterschiedlich aus. Manche Menschen kehren nach der Jugendphase in ihre Heimat zurück, andere später oder gar nicht. Klassische Musiker scheinen die mobilsten zu sein, vielleicht, weil schon der Musiktyp von der asiatischen Umgebung entfremdet und Ausbildung und Berufsausübung meist früh in die Ferne treiben. Im weltweiten Vergleich fällt auf, daß Europa, Amerika und Fernost sich, was die Klassik betrifft, musikalisch näherstehen, viele Japaner, Koreaner und inzwischen auch Chinesen machen Karriere außerhalb ihrer Heimat und lassen sich überall nieder zwischen Tokyo und Berlin, ausgenommen Afrika, wo man als einzigem Kontinent keine Wiener Klassik zu hören bekommt.
Kann schon die vorsprachliche Musik verbinden, so vermag dies die Heimatsprache um so mehr:


Und als ich an die Grenze kam,
Da fühlt ich ein stärkeres Klopfen
In meiner Brust, ich glaube sogar
Die Augen begunnen zu tropfen.


Und als ich die deutsche Sprache vernahm,
Da ward mir seltsam zu Mute;
Ich meinte nicht anders, als ob das Herz
Recht angenehm verblute.”


Heine, Wintermärchen, Caput 1

Nun, Heine hat immer etwas übertrieben, meist sogar etwa mehr, aber bei der Heimatsprache, die eben auch die Muttersprache ist, handelt es sich um einen kulturellen Kosmos von größter, auch emotionaler Bedeutung. Das versprachlichte Denken begleitet den Sprecher überall hin und vermittelt ein kulturelles Heimatgefühl. Gesprochen in einer Gemeinschaft oder Gesellschaft entwickelt die gemeinsame Sprache eine große Wirkung, man kann das in einem riesigen Land wie den Vereinigten Staaten sehen. 


In Europa liegen die muttersprachlichen Dinge ganz anders. Schon die Schweiz hat ihr Sprachenproblem. Sie zerfällt in drei verschiedene sprachkulturelle Räume, in denen das Telefonieren von einem Teil in den anderen, etwa über den “Röstigraben” hinweg von Basel nach Genf, nicht so einfach ist wie von L.A. nach NYC. Und in Fribourg hat man ein etwas anderes Heimatgefühl als in Lugano. Zwischen Paris, Oslo, Athen und Talinn sind die sprachkulturellen Unterschiede noch viel stärker ausgeprägt. Zudem gibt es wegen der Sprachschranken keine gemeinsame europäische Öffentlichkeit.  
Europapolitik, die das Heimatgefühl der vielen europäischen sprachkulturellen Räume nicht beschädigen will, muß es so halten wie in der Schweiz: sie muß den Ländern ein Höchstmaß an Selbständigkeit belassen. Europapolitik darf sich nicht zentralistisch und ungeduldig gebärden, wie das die Brüsselkraten gerne tun und wie es manche gar fordern, etwa das deutsche Trio infernale Bofinger, Nida-Rümelin und Habermas.