Freitag, 2. September 2016

Nennen wir es: Emergenz









Im Kopf die Wurzel aus 266.765 ziehen? Zwei Seiten im Telefonbuch gleichzeitig lesen und dann auswendig können? Manche Leute können das, und haben tatsächlich oft Probleme, sich im Alltag allein ohne fremde Hilfe zurechtzufinden. Solche Menschen werden “Idiot Savants” genannt, ‘Intelligenzidioten’, könnte man übersetzen. Solche erstaunlichen Teilleistungen passen nicht recht zum allgemeinen Spearman’schen Intelligenzfaktor “g”. Den hat Spearman postuliert aufgrund des Befundes, daß die meisten Menschen in den meisten Bereichen ähnlich intelligent sind. Der Klassenprimus hat in (fast) allen Fächern eine 1, nicht nur in einem Fach. Allerdings kennt man auch aus der Schule deutliche Begabungsschwerpunkte. Das Mathematik-As, das die Mathematikstunden absitzt, weil er schon mehr kann als der Mathelehrer, aber in den anderen Fächern deutlich weniger kann. Und für die sprachlichen Fächer gilt Ähnliches.
Zum Verständnis des Problems der unterschiedlichen Teilleistungen ist der Begriff “Emergenz” hilfreich. Han van der Maas und Kollegen vertreten dieses Konzept als Mutualismus. Zahlreiche Komponenten und Prozesse bestimmten das individuelle Intelligenzniveau. “Ein vereinfachtes Beispiel möge das verdeutlichen: Sagen wir Hans mit einem IQ von 120 hätte auf einer Skala von 1 bis 10 eine Merkfähigkeit von 8, eine Verarbeitungsgeschwindigkeit von 4, eine mentale Rotationsfähigkeit von 7.
Eine andere Person, (Anne) hätte auf denselben Komponenten Werte von 4, 8 und 7, die in Summe ebenfalls zu einem IQ von 120 führen würden (...). Wir erhielten folglich für beide das gleiche Endergebnis, dieses käme aber auf ganz unterschiedliche Weise zustande. Nehmen wir nun weiterhin an, daß für diese verschiedenen Teilprozesse unterschiedliche Gene verantwortlich sind, die die jeweils relevanten Gehirnprozesse bzw. –eigenschaften steuern. Man würde sich logischerweise schwertun, intelligenzrelevante Gene zu finden, wenn diese bei verschiedenen Menschen jeweils andere sind.
Das Beispiel verdeutlicht: Hans hätte zB eher die Gene für ein gutes Gedächtnis, während Anne eher die Gene für schnelles Denken hätte. ... Vielleicht ist es auch einfach so, daß die Zahl der intelligenzrelevanten Gene so groß ist (mehrere hundert oder gar tausende), daß der Effekt jedes einzelnen Gens letztlich so gering ist, daß er kaum nachweisbar ist.“
(Stern/Neubauer, Intelligenz, 2013, S. 102f.)

Diese Gene könnten im Zusammenspiel (Mutualismus) besondere Akzente setzen, also etwa einen besonders hohen IQ verursachen, oder eine Teilleistung verstärken, wie ein fotographisches Gedächtnis.