Foto: Lichtenberg vor der alten Uni-Bibliothek in Göttingen.
“Die Welt ist immer in ihren Urteilen zu gütig oder unbillig.” Georg Christoph Lichtenberg (1.7.1742-1799), Sudelbücher, Heft F, 284
Ja, das sollte man früh begreifen, und daß dem kaum oder gar nicht abzuhelfen ist. Bei allem Urteilen spielt das Gefühl eine Rolle und verändert das Vorzeichen der Wahrnehmung. Auch im Urteil über das eigene Selbst. Daher sind die Schuldtrompeter - religiös oder nicht - stets abzuweisen, wie Religionen generell.
Von Descartes stammt der Satz “Ich denke, also bin ich”; er war ein tumber Tor in Sachen Psychologie und Anthropologie, wie die meisten Philosophen. Der Neurologe Antonio Damasio benannte daher eines seiner Bücher “Descartes Irrtum” (1994). Sein Buch von 1999 trägt den Titel “Ich fühle, also bin ich”, darin findet sich: “Mehr noch, ich denke, daß die Mechanismen, die der Emotion zugrunde liegen, kein Bewußtsein verlangen, selbst wenn sie sich manchmal seiner doch bedienen: Sie können die Kaskade von Prozessen, die zum emotionalen Ausdruck führen, in Gang setzen, ohne sich des emotionalen Auslösers bewußt zu sein, von den Zwischenschritten ganz zu schweigen. Tatsächlich kann ein Gefühl im begrenzten Zeitausschnitt des Hier und Jetzt auftreten, ohne daß der Organismus tatsächlich etwas von seinem Vorkommen weiß.” (A.a.O., S. 58)
Urteile über Menschen haftet daher stets Unsicherheit an, zumal eine Vielzahl von Perspektiven auf ein und denselben Menschen möglich ist. Auch die Wissenschaftler sind fühlende Menschen, und im Bereich der Geistes- und Sozialwissenschaften - den Weichwissenschaften - finden sich viele Irrungen und Wirrungen verschlungen mit emotionalen Lagen. Besonders ragt da die 68er Studentenbewegung hervor, die sich aus pubertärem Antrieb sich auf Marx, Engels, Lenin, Stalin und Mao stürzte.
Aber auch in den Naturwissenschaften gibt es die “Fakten” nicht frei Haus geliefert. Die Forschungsgegenstände der Naturwissenschaften lassen zwar mehr Distanz zu, weil Menschen nur sekundär berührt sind. Aber das wohlige Gefühl, den eigenen Interessen zu dienen, führt zur Herdenbildung um wechselnde Paradigmen und um die Paradigmen-Häuptlinge. Wie Aerosole an einen Nukleus lagern sich die interessierten Forscher an und bilden Machtkartelle, die konkurrierende Paradigmen niedermachen.
In diesem Zusammenhang führte der Soziologe Armin Nassehi in einem Vortrag vor der Rektorenkonferenz aus:
“Deshalb muss man das Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft auch auf diesem komplexen Niveau diskutieren und nicht etwa als Wissenschaftskitsch, wie man ihn letztens auf dem science march lesen konnte: Dort wurde plakatiert, zu Fakten gebe es keine Alternative – was für ein Unsinn. Was Wissenschaft vorführt, sind nicht alternativlose Fakten, sondern alternative Aussagen über jene Fakten, die Wissenschaft stets nur durch die Brille ihrer Theorien, Methoden und Verfahren sehen kann. Selbst der radikalste erkenntnistheoretische Realismus braucht Methoden!”
Armin Nassehi, Zu Fakten gibt es oft eine Alternative. Von den Wissenschaften erwartet die Gesellschaft unumstößliche Wahrheiten. Diese Hoffnung muss enttäuscht werden. FAZ 28.6.17
So ähnlich hätte das Lichtenberg auch gesagt.