“Obwohl sicher auch in der europäischen Gesellschaftsentwicklung die Religion die jeweiligen Rollen der Geschlechter beeinflußt hat, so läßt sich doch im interkulturellen Vergleich sagen, daß das Christentum für die innerfamiliale Stellung von Frau und Mann von relativ geringer Bedeutung war. Selbst in der altägyptischen Kultur, in der die Geschlechterrollen sehr ausgeglichen waren, konnten nur männliche Familienmitglieder die Totenopfer für die verstorbenen Eltern darbringen. In Indien, China und Japan erscheint der Vorrang der Männer im Hinblick auf ihre ausschließliche Kultfähigkeit beim Ahnenopfer noch stärker ausgeprägt. Im Christentum fehlt jeder Ansatz zu einem solchen Unterschied. Auch im Vergleich zum europäischen Judentum zeigt sich, daß die religiösen Bedingungen der Geschlechterrollen sowie der innerfamilialen Stellung der Frau und Mann in christlichen Gesellschaften eine relativ geringe Rolle spielten. Im Judentum hat die auf die Männer beschränkte Verpflichtung zum Studium der heiligen Schriften die Unterschiede der Rollenbilder sehr stark beeinflußt - von der Unterschiedlichen Ausbildung von Knaben und Mädchen über die innerfamiliale Arbeitsteilung bis hin zu den Idealvorstellungen des äußeren Erscheinungsbildes. Im Judentum spielte auch der häusliche Kult eine viel stärkere Rolle, wodurch sich eine sakrale Fundierung der Stellung des Hausvaters ergab. Im Christentum als einer ausgeprägten Gemeindereligion fehlen solche Ansätze.”Die christliche Kirche spielt hier nach Mitterauer eine passive, insofern nicht blockierende Rolle. Das ist auch hier, jenseits der proaktiven Faktoren von mittelalterlicher Agrarrevolution, zweigeteilter Grundherrschaft und später Heirat kein ideengeschichtlicher Ansatz wie bei Larry Siedentop in “Die Erfindung des Individuums: Der Liberalismus und die westliche Welt“ und erscheint damit erklärungskräftiger.
*M. Mitterauer, Sozialgeschichte der Familie, S. 25