Samstag, 3. August 2013

Unter Lupenreinen


Natürlich sehe ich das nicht objektiv. In Rußland säße ich im Gefängnis. Im Arbeitslager. 
Man darf in Rußland zwar alles sagen, man wird aber vorher schon oder spätestens hinterher verhaftet. Wenn das Gesagte der Obrigkeit nicht gefällt. Die Richter dienen der Staatsgewalt. Sie sind zwar an Weisungen nicht gebunden, aber wenn sie davon Gebrauch machen, werden sie gar nicht erst ernannt. Oder ihr Eigentum wird konfisziert. Oder sie verunfallen. Allerdings scheinen sie nicht erschossen zu werden wie ungehorsame Journalisten. Man erinnere sich an Politkowskaja, die im Hausflur erschossen wurde. So etwas wirkt und beeindruckt die anderen Journalisten. Ex-Geheimagent-Putin wird immer kgb-hafter. Zu recht fühlt er sich bedroht durch Bürger, die garantierte Besitzrechte beanspruchen, Meinungsfreiheit verlangen und Wahlfälschungen bekämpfen. Gegen diese Freiheitsfreunde hat Putin schon seit ein paar Jahren einen Pakt mit der besonders geistfeindlichen russisch-orthodoxen Kirche geschlossen, wie dies schon die Zaren taten, um den großen rückständigen Teil der russischen Bevölkerung gegen den kleineren Teil der westlich orientierten Stadtbevölkerung auszuspielen. 
Man kann so unzufrieden mit den deutschen Verhältnissen sein, wie es beliebt - verglichen mit dem autoritär regierten Rußland, in dem jeder jederzeit unter erfundenen und erlogenen Vorwänden verhaftet werden kann - verglichen damit leben die Deutschen auf einer goldenen Insel der Seligen! 
Um so merkwürdiger mutet es an, daß es viele Deutsche gibt, die mit Rußland und seinem regierenden KGBler sympathisieren. Auch wenn man zur Erklärung an Goethes Wort denkt, mit dem er einen genuin menschlichen Zug charakterisiert:
“Nichts ist schwerer zu ertragen,
Als eine Reihe von guten Tagen.”
Und seit der Befreiung von der NS-Diktatur sind jetzt schon gute, fette Jahrzehnte ins Land gezogen. Aber man kann nicht umhin, auch daran zu denken, daß die individuelle Freiheit in Deutschland keine feste Tradition besitzt. Und zwei Katastrophen und zwei Diktaturen in einem Jahrhundert hinterlassen mentale Spuren. Ich würde nicht sagen, wie Helmut Schmidt, daß den Deutschen nicht zu trauen sei. Aber es fehlt ihnen die mentale Mitte. Ich würde einmal behaupten, daß der Hälfte der Deutschen nicht zu trauen sei. Sie sind so staatsgläubig wie eh und je. Und vielleicht kommen daher die Sympathien für den lupenreinen Geheimdienstregenten Putin.

Anhang: "Putins Regime
"Russland bewegt sich in Richtung Diktatur"FAZ.NET, 01.06.2013 Interview mit dem Direktor des MoskauerMeinungsforschungsinstituts "Lewada-Zentrum"
Die russische Regierung geht immer entschiedener gegen die Opposition und die Zivilgesellschaft vor. Warum tut sie das, Herr Gudkow?

Putins Regime ist schwächer geworden. Die Unzufriedenheit im Land wächst - aus unterschiedlichen Gründen. In den Millionenstädten fordert die neue Mittelklasse Dinge wie unabhängige Gerichte, Pressefreiheit und freie Wahlen. Daneben existieren Reservate des Sozialismus, wo die alte Industrie steht. Dort unterstützen die Leute die Staatsmacht, weil sie ohne staatliche Unterstützung nicht über die Runden kommen. Dort gibt es nach Ansicht der Leute zu wenig Sozialismus. Das Land driftet auseinander: Die Provinz will zurück in die Sowjetzeit, die Bevölkerung in den Großstädten will Reformen.

Fühlt sich Putin bedroht?

Das Image der Regierung leidet durch die ständigen Korruptionsskandale. Das Regime fühlt diese Schwäche, aber es schiebt die Verantwortung dafür auf das Ausland. Es gibt in der Führung die Paranoia, dass Nichtregierungsorganisationen eine Revolution entfachen könnten wie seinerzeit in der Ukraine oder in Georgien. Deswegen hat die Führung in Reaktion auf die Massenproteste Ende 2011 eine Reihe repressiver Gesetze erlassen, wie das Gesetz über "ausländische Agenten".

Laut diesem Gesetz müssen sich Nichtregierungsorganisationen, die Geld aus dem Ausland bekommen, als "ausländische Agenten" registrieren lassen. Damit wird nun auch Ihr Meinungsforschungsinstitut, das Lewada-Zentrum, unter Druck gesetzt.

Ja. Ende April haben wir Post von der Staatsanwaltschaft bekommen, dass wir uns als "ausländischer Agent" registrieren oder aber unsere Arbeit einstellen sollen. Dass wir Meinungsforschung betreiben und die Ergebnisse veröffentlichen und kommentieren, versteht die Staatsanwaltschaft als politische Betätigung.

Was bedeutet für die Russen der Begriff "ausländischer Agent"?

Sie verbinden ihn mit Spionage, Sabotage, wenn nicht gar mit Terrorismus. Der Begriff ist durch die Stalin-Zeit geprägt, überhaupt durch die Sowjetzeit, in der Kontakte mit Ausländern immer mit dem Verdacht der Spionage verbunden waren. 70 Prozent der Bürger, so zeigen unsere Umfragen, verstehen den Begriff genau in diesem Sinne. Es ist ein Teil einer Kampagne, um Nichtregierungsorganisationen als zwielichtige Vereinigungen zu diffamieren.

Woher bezieht Ihr Institut seine Aufträge und sein Geld?

Zu zwei Dritteln von russischen Firmen oder russischen Universitäten. Ein Teil kommt von russischen Behörden, etwa vom Wirtschaftsministerium. Ungefähr zwanzig Prozent sind Marketing im Auftrag ausländischer Firmen. Und ein ganz kleiner Teil kommt von ausländischen Stiftungen wie etwa der Soros-Stiftung.

Sie sprachen über die wachsende Unzufriedenheit. Ist auch Putin nicht mehr populär?

Er ist noch ziemlich populär. Denn die Propaganda ist darauf gerichtet, ihn alternativlos erscheinen zu lassen. Putin ist an die Macht gekommen, als die Krise der neunziger Jahre zu Ende ging. Die Wirtschaft begann zu wachsen, nicht zuletzt auch durch den hohen Ölpreis. Das hat ihm die Aura des Retters gegeben. Dieses Image hat bis zur Krise des Jahres 2008 gehalten. Jetzt versucht man, die angebliche Alternativlosigkeit zu bewahren. Mögliche andere Führungsfiguren werden klein gehalten. Man lässt sie nicht zu Wahlen zu oder nicht ins Fernsehen, das die wichtigste Informationsquelle für die große Mehrheit ist.

Dann könnte das Regime doch ganz beruhigt sein.

Nein. Die Zahl der überzeugten Putin-Anhänger ist gesunken, auf etwa 25 Prozent. Die Zahl der Putin-Gegner ist gewachsen, auch auf etwa ein Viertel der Bevölkerung. Nach unseren jüngsten Umfragen wollen 55 Prozent nicht, dass Putin bei den nächsten Wahlen noch einmal kandidiert. Aber die Mehrheit der Bevölkerung ist gleichgültig. Darauf stützt sich das System.

Ende 2011 haben Zehntausende gegen Fälschungen bei der Parlamentswahl demonstriert. Das spricht doch gegen die These von den angeblich so passiven, apathischen Russen.

Das war auch für uns eine echte Überraschung. Es war allerdings kein bewusster politischer Protest, sondern ein moralischer. Dass Putin damals einfach wieder Präsident wurde, hat in der Mittelklasse zu Empörung geführt. Als dann noch die Wahlen gefälscht wurden, fühlten sich viele Leute persönlich beleidigt - 27 Prozent äußerten sich in unseren Umfragen so. In Moskau demonstrierten nach unseren Daten bis zu 110.000 Menschen. Bei den jüngsten Demonstrationen im Mai waren es nur noch rund 25.000.

Kapitulieren die Leute vor den staatlichen Repressionen, haben sie Angst?

Es ist vor allem das Gefühl, dass man in einer Sackgasse steckt, dass man doch nichts machen kann.
Hinzu kommt Angst. Wenn Leute wahllos verhaftet werden, nur weil sie auf einer Demonstration dabei waren, dann zeigt das Wirkung.

In Deutschland streiten Politik und Wirtschaft über den richtigen Kurs gegenüber Russland. Die einen sagen: Wir müssen Russland deutlich kritisieren, die Achtung der Menschenrechte einfordern und das Gerede über eine strategische Partnerschaft beenden. Die anderen sagen: Eine Konfrontation bringt nichts. Wir müssen mit Russland enger zusammenarbeiten, nur so können wir etwas bewirken. Welche Haltung scheint Ihnen angemessen?
Den Weg der stillen Diplomatie halte ich für falsch. Russland bewegt sich heute in Richtung Diktatur. Einer Diktatur, wie wir sie in Weißrussland unter Lukaschenka haben. ...

Wagen Sie einen Blick in die Zukunft: Wohin entwickelt sich Russland in den kommenden Jahren?

Die Wirtschaftsreformen der neunziger Jahre haben eine Mittelklasse hervorgebracht, die mit dem heutigen politischen System unvereinbar ist. Deswegen werden die Spannungen zunehmen. Die Führung um Putin wird weiter auf die harte Linie setzen. Die Mittelklasse hat in den letzten 15 Jahren Eigentum erworben, einen bestimmten Lebensstandard erreicht.
Solange es keinen Rechtsstaat gibt, kann man aber jedem über Nacht das Eigentum wegnehmen. Das erleben wir jeden Tag. Wenn 90 Prozent der Ermittlungen wegen angeblicher Wirtschaftsverbrechen eingestellt werden, dann zeigt das, dass die Justiz einfach dazu benutzt wird, um Konkurrenten einzuschüchtern. ..."