Sonntag, 2. Oktober 2011

Vier Etappen sollt ihr sein




Interessanter Lebenslauf, interessantes Buch, keine Rousseau-Schwafelei



Die vierte Rousseau’sche Entwicklungsphase im EMIL umfaßt die Jugendjahre von 15 bis 20. Bei den vorhergehenden Etappen besteht der Hauptmangel darin, daß R. die konkreten Kenntnisse fehlen, die er bei der Erziehung seiner eigenen Kinder, die er nach der Geburt sofort aussetzte, hätte gewinnen können. Dazu zählt auch, daß Kinder sich so unterscheiden, wie es Erwachsene auch tun, sie sind Individualitäten, denen man gerecht werden muß, will man das Kind erfolgreich nach seinen eigenen Systembedingungen wachsen lassen. Was für das eine Kind gut ist, kann für ein anderes schlecht sein. Die Erzieher brauchen kein aufgeblasenes Papierprogramm wie den EMIL, sie brauchen konkrete Beobachtung und Einfühlung, um das individuelle Kind differentiell zu erfassen.
Das gelingt nicht, wenn man bedrucktes Papier im Kopf hat wie R.
Bei der vierten Erziehungsetappe nun begreift Rousseau praktisch nichts mehr. Sie steht unter dem Ziel der Eingliederung in die Gemeinschaft, womit er eigentlich die Gesellschaft meint. Mitglied von Gemeinschaften ist das Kind von Beginn an, seine Beziehungen wachsen von der Mutter, die es schon während der Schwangerschaft kennenlernt, in die Familie, zu den Großeltern, Nachbarn, Kameraden und Spielgefährten, zu vielen Personen des Nahbereichs einer Siedlung.
Mit Beginn einer Lehre, zu Rousseaus Zeiten also mit etwa 12 Jahren, treten fremde Personen auf, denen es sich in ungewohnt hohem Maße anpassen muß, oft verbunden mit einem Wechsel an einen fremden Ort, vielfach angehängt an die fremde Familie des Lehrherrn (vgl. Karl Ph. Moritz, Anton Reiser). Die Gestaltung dieses Hinausgehens in die Gesellschaft, die nach anderen, abstrakteren und allgemeineren Regeln funktioniert als die Gemeinschaft, stellt erhebliche Ansprüche an den jungen Menschen. Dieses Problem erkennt R. gar nicht, weil er nicht zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft unterscheidet (vgl. Ferd. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft; Max Weber, Soziologische Grundbegriffe).