Sonntag, 9. Oktober 2011

Sechs Finger für den Fortschritt




In der alten Brühe schwimmt wenig Neues


- Jäger des Konservativen:  “ Genuin konservativ zu sein würde vor allem zweierlei bedeuten:
Ein Gefühl für das Gewicht der Wirklichkeit zu haben; daraus folgt von selbst eine Mäßigung.
Und - nicht weniger wichtig - jedenfalls die Sehnsucht nach Maßstäben, die von oben kommen, vielleicht von Gott. “ (Jäger, Adieu, FAZ 5.10.11)

Man wird auch das Konservative individualisiert betrachten können, und wer denn religiöse Maßstäbe ersehnt, dem gefallen sie eben. Religiöse Texte stellen ohne Zweifel konservative Ansprüche, sie wollen für immer und ewig gelten, und tatsächlich glauben Menschen der Gegenwart an zweitausend Jahre alte Texte, woraus sich der Schluß ziehen ließe, daß der homo sapiens sowohl ein konservatives Glaubensbedürfnis habe als auch in seinen Denkfähigkeiten sehr beschränkt sei.  

Aber muß Denkfaulheit als “genuin konservativ” angesehen werden? Sind Wandel und Wechsel als die einzigen “ewigen” Bezugspunkte nicht allein angemessen für “genuin konservatives” Denken?
Das widerspricht natürlich dem Wortsinne des ERHALTENS, des KONSERVIERENS - aber nur in oberflächlicher Hinsicht. Das Konservative sollte sich fundamental begründen - Leben fluktuiert zwischen verschiedenen Zuständen - Ungleichgewichtszuständen, Fließgleichgewichten.
Schon der Körper läßt sich nur erhalten durch immer erneute Energiezufuhr, durch den Aufbau eines dichten neuronalen Netzes mit immer neuen Verknüpfungen, durch Überschreiben von Inhalten und Bemühung um die Erhaltung der synaptischen Plastizität.  Von außen sieht man das dem Kopf nicht an, sowenig wie ganzen Körper seine unzähligen interzellulären und hormonellen Wandlungen. Von außen erkennt man nur sekundäre Veränderungen wie das Altern der Haut und der Körperformen. Bis zum Tode mag man sich um die Bewahrung und Erhaltung des Körpers und seiner geistigen Emanationen bemühen. Am besten gelingt das durch intelligente Anpassung an die nicht revidierbaren, fundamentalen Wandlungen.
Dies mag für alle Phänomene gelten, und gerade da besitzen die Texte ihre größten Probleme - sie gelten höchstens zeitlich begrenzt. Für Religionstexte gilt das ebenso wie für andere, nur wollen ihre Verfasser die unbeschränkte Geltung festschreiben, wodurch sie große Anpassungsprobleme für die Zukunft heraufbeschwören. Einzeltexte mit konkreten Rechtsvorschriften wie unterschiedliche Erbregeln für Mann und Frau sind schon in kurzer Zeit überholt und fallen der Wertlosigkeit oder der radikalen Umformulierung anheim. Verweigern die Religionsfunktionäre dies, die Umformulierung, so geraten die Anhänger in eine Entwicklungsfalle, die in Erstarrung und Verfall mündet.
Mehrtextreligionen ohne Rechtskonkretionen besitzen dagegen ein größeres Interpretations- und Anpassungspotential, was ihre vitale Lebenszeit verlängert, insbesondere, wenn viele kluge Autoren an der Textsammlung mitgearbeitet haben. (Vgl. die vielen Texte des Alten und Neuen Testaments)  Ohne Ketzer, Schismen und Reformationen geht jedoch auch das nicht ab - wie im sonstigen Leben auch.
Pragmatismus ist da gefragt und Flexibilität, eine grundsätzliche Bejahung des Wandels bei vorsichtiger Bewahrung des Bewährten.
Dazu wird ein kluger Konservativer die Fünfstrahligkeit von Hand und Fuß rechnen, während der Neuerer stets das Rad neu erfinden will. Viel Neues ereignet sich in der Evolution, doch das Allermeiste taugt nicht und scheidet wieder aus.
" Maßstäbe, die von oben kommen", die aber gibt es nicht.