Mittwoch, 14. April 2021

Michael Mitterauer, Warum Europa? Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs

 Das ist die Frage aller Fragen für den Universalhistoriker, den Soziologen, den Ökonomen und Politologen:

“Universalgeschichtliche Probleme wird der Sohn der modernen europäischen Kulturwelt unvermeidlicher- und berechtigterweise unter der Fragestellung behandeln: welche Verkettung von Umständen hat dazu geführt, daß gerade auf dem Boden des Okzidents, und nur hier, Kulturerscheinungen auftraten, welche doch – wie wenigstens wir uns gern vorstellen – in einer Entwicklungsrichtung von universeller Bedeutung und Gültigkeit lagen? …” (Max Weber, Vorbemerkung zu den »Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie« 1905) 

Mitterauer trägt zur Beantwortung dieser Frage einiges Wichtige bei:

  1. Die Agrarrevolution des Frühmittelalters mit Roggen und Hafer, Einbeziehung der Großviehzucht, Dreifelderwirtschaft und dann dem schwerem Räderpflug sowie Mühlentechnik bilden zweifellos eine wichtige Grundlage für jede weitere Entwicklung, weil die Ernährung der Bevölkerung stabilisiert wird. Anderswo fand eine solche Entwicklung sich gegenseitig verstärkender Faktoren nicht statt. 

  2. Die zweigeteilte Grundherrschaft als erweitertes Familienmodell förderte die Arbeitsteilung und die Gattenzentrierung der Familie und lockerte die patrilinearen Abstammungsverbände (Klan, Stamm).

  3. Die lateinische Papstkirche mit ihren Panzerreitern (Ritterorden) eroberte Europa und wehrte Angreifer ab. 

Das Anknüpfen an das Römische Recht in seiner zivilisationssichernden Wirkung bleibt allerdings bei Mittauer unterbelichtet. Auch das Versagen in der Aufnahme und Bewahrung der römischen Zivilisation insgesamt - weswegen das Mittelalter so dunkel und stinkend ausfiel - wird einfach übergangen. Das hängt zusammen mit Mittauers nur spärlicher Beachtung der schwachen Ergebnisse der fränkischen Naturwaissenschaft und Technik, die erst mit Leonardo da Vinci in der Renaissance ein größeres Gewicht bekommt. Die Renaissance aber ist nicht mehr das religionstriefende Mittelalter, sondern der Aufbruch der frühen Neuzeit mit bis heute beeindruckenden Figuren wie Montaigne, Luther, Calvin, Zwingli, Galilei, Vesalius, William Harvey etc.; und natürlich Johannes Gutenberg, der mit seinen beweglichen Lettern (Typoskript) mit einem Paukenschlag die Massenkommunikation der Moderne eröffnete.  

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß Mittauer der Sonderwegsdiskussion Europas eine bisher wenig beachtete Perspektive hinzugefügt hat, die die große Untersuchung von David Landes “Wohlstand und Armut der Nationen” verdienstvoll ergänzt, wenn auch eine gewisse christliche Voreingenommenheit nicht zu übersehen ist.

Großes Augenmerk legt Mitterauer auf die Kirchengeschichte mit allen ihren Schismen, der Leser lernt auch den Hesychasmus der griechisch-orthodoxen Mönche kennen - ihr stilles Einsiedlertum - im Unterschied zur geselligen und aktiven Orientierung des fränkischen Mönchstums, etwa der Zisterzienser. Das macht das Buch Mitterauers auch zu einer spannenden Lektüre der Kirchengeschichte, angebunden an säkulare Strukturphänomene wie die Arbeitsteilung, Agrarverfassung, Verschriftlichung und Technikanwendung. Für letztere gelingt aber kein Nachweis der Förderung durch Glaubensinhalte, und bei der Verschriftlichung handelt es sich um eine alte Entwicklungslinie, die schon bei der mesopotamischen Keilschrift beginnt und im griechischen Lautalphabet ihre zukunftsfähige Form erhält; in der Anwendung knüpfen die Franken an die römische Praxis an. Karl, der rund 2m große Karolinger, er war also wirklich ein großer König und Kaiser, konnte nicht lesen und schreiben - das wäre für einen römischen Senator undenkbar gewesen. Lesen und Schreiben besorgten dem Kriegskaiser Karl die schriftkundigen Mönche, an erster Stelle der Yorker Diakon Alkuin, der spätere Benediktinerabt.