Freitag, 4. November 2016
Der Weg der Wissenschaft ist mit Irrtümern gepflastert
Fünf Silhouetten.
»Eine edle Gesellschaft; zwar nicht lauter Dichter. Aber – die Gesellschaft gefällt mir so wohl zusammen, daß ich sie nicht trennen möchte, und nicht anderswo, wie ich anfangs dachte, sondern gerade hier einrücken will –
Nicht Eine gemeine Seele.«
[1]Johann Martin Miller (1750-1814) [2] Matthias Claudius (1740-1815) [3] Friedrich Heinrich Jacobi (1743-1819)
»Eine edle Gesellschaft; zwar nicht lauter Dichter. Aber – die Gesellschaft gefällt mir so wohl zusammen, daß ich sie nicht trennen möchte, und nicht anderswo, wie ich anfangs dachte, sondern gerade hier einrücken will –
Nicht Eine gemeine Seele.«
[1]Johann Martin Miller (1750-1814) [2] Matthias Claudius (1740-1815) [3] Friedrich Heinrich Jacobi (1743-1819)
Aus: Johann Caspar Lavater: Von der
Physiognomik - Erster Abschnitt.
Was die Physiognomik heiße oder was diese Wissenschaft
in sich begreife.
Physiognomik
ist die Wissenschaft, den Charakter (nicht die zufälligen Schicksale) des
Menschen im weitläuftigsten Verstande aus seinem Aeußerlichen zu erkennen;
Physiognomie im weitläuftigen Verstande wäre also alles Aeußerliche an dem
Körper des Menschen und den Bewegungen desselben, in sofern sich daraus etwas
von dem Charakter des Menschen erkennen läßt.
So viele
verschiedene Charaktere der Mensch zugleich haben kann, das ist, aus so vielen
Gesichtspunkten der Mensch betrachtet werden kann, so vielerley Arten von
Physiognomien hat Ein und eben derselbe Mensch.
Daher begreift die Physiognomik
alle Charaktere des Menschen, die zusammen einen completen Totalcharakter
ausmachen, in sich. Sie beurtheilt den physiologischen, den Temperamentscharakter,
den medicinischen, den physischen, den intellectuellen, den moralischen, den
habituellen, den Geschicklichkeitscharakter, den gesellschaftlichen oder
umgänglichen, u.s.w. ...“
Aber warum sollte nur das Gesicht
Hinweise auf den Charakter geben? Schwänze tun es auch! sagte sich Lichtenberg
und er verfaßte:
Georg Christoph Lichtenberg
Fragment von Schwänzen
Ein Beitrag zu den
Physiognomischen Fragmenten
Silhouetten
Fragment von Schwänzen
1. Heroische, kraftvolle
A. Ein Sauschwanz
B. Englischer Doggenschwanz
A. Wenn du in diesem
Schwanz nicht siehest, lieber Leser, den Teufel in Sauheit, (obgleich hoher
Schweinsdrang bei a) nicht deutlich erkennest den Schrecken Israels in c, nicht
mit den Augen riechst, als hättest du die Nase drin, den niedern Schlamm in dem
er aufwuchs bei d, und nicht zu treten scheinst in den Abstoß der Natur und den
Abscheu aller Zeiten und Völker, der sein Element war – so mache mein Buch zu;
so bist du für Physiognomie verloren.
Dieses Schwein, sonst gebornes Ur-Genie,
luderte Tage lang im Schlamm hin; vergiftete ganze Straßen mit
unaussprechlichem Mistgeruch, brach in eine Synagoge bei der Nacht, und
entweihte sie scheußlich; fraß, als sie Mutter ward, mit unerhörter Grausamkeit
drei ihrer Jungen lebendig, und als sie endlich ihre kannibalische Wut an einem
armen Kinde auslassen wollte, fiel sie in das Schwert der Rache, sie ward von
den Bettelbuben erschlagen, und von Henkersknechten halbgar gefressen.
B. Der du mit
menschlichen warmen Herzen die ganze Natur umfängst, mit andächtigen Staunen
dich in jedes ihrer Werke hinfühlst, lieber Leser, teurer Seelenfreund,
betrachte diesen Hundeschwanz, und bekenne ob Alexander, wenn er einen Schwanz
hätte tragen wollen, sich eines solchen hätte schämen dürfen. Durchaus nichts
weichlich, »hundselndes, nichts damenschößigtes, zuckernes« mausknapperndes,
winzigtes Wesen. Überall Mannheit, Drangdruck, hoher erhabener Bug und ruhiges,
bedächtliches, kraftherbergendes Hinstarren, gleichweit entfernt von
untertänigem Verkriechen, zwischen den Beinen, und hühnerhündischer,
wildwitternder, ängstlicher unschlüssiger Horizontalität. Stürbe der Mensch
aus, wahrlich der Scepter der Erde fiele an diese Schwänze. Wer fühlt nicht
hohe an menschlicher Idiodität angrenzende Hundheit in der Krümmung bei a). An
Lage wie nach der Erde, an Bedeutung wie nach dem Himmel. Liebe, Herzens-Wonne
Natur, wenn du dereinst dein Meisterstück mit einem Schwanze zieren willst, so
erhöre die Bitte deines bis zur Schwärmerei warmen Dieners, und verleihe ihm
einen wie B.
Dieser Schwanz gehörte Heinrich
des VIII. Leibhunde zu. Er hieß Cäsar, und war Cäsar. Auf seinem Halsbande
stund das Motto: aut Caesar, aut nihil, mit goldenen Buchstaben, und in
seinen Augen eben dasselbe, weit leserlicher, und weit feuriger. Seinen Tod
verursachte ein Kampf mit einem Löwen, doch starb der Löwe fünf Minuten früher
als Cäsar. Als man ihm zurief, Marx der Löwe ist tot, so wedelte er dreimal mit
diesem verewigten Schwanze, und starb als ein gerochener Held.
Molliter ossa quiescant.
C. Silhouette vom
Schwanze eines, leider! zur Mettwurst bereits bestimmten Schweins-Jünglings in
G... von der größten Hoffnung, den ich allen warmen, elastischen, beschnittenen
und unbeschnittenen Genie ausbrütenden Stutzern, von Mensch- und Sauheit,
bittewimmernd empfehle. Fühlts, hörts! und Donner werde dem Fleischer, der dich
anpackt.
Noch zur Zeit nicht ganz
entferkelt; mutterschweinische Weichmut in schlappen Hang und läppische
Milchheit in der Fahnenspitze. Aber doch bei p schon keimendes Korn von
Keiler-Talent; ja wäre bei m nicht sichtbarlich städtische Schwäche und mehr
Spickespeck, als Haugeist, und wäre unter dem Schwanz bei o minder Rauchkammer
als Ruhms-Tempel, und minder Mettwurst als Triumph, so sagte ich: dein Ahnherr
überwand den Adonis, und der Ebergeist des Herkules-Bekämpfers ruht auf deinem
Schwanz.
Einige Silhouetten von
unbekannten meist tatlosen Schweinen
a, Schwach arbeitende Tatkraft;
b, physischer und moralischer Speck; c, unverständlich entweder monströs oder
Himmelsfunken lodernder Keim vom Wanderer zertreten; d, vermutlich verzeichnet,
sonst blendender, auffahrender Eberblitz; f, Kraft mit Speck vertatloset.
Acht Silhouetten von
Purschenschwänzen zur Übung
Erklärungen:
1
Ist fast Schwanz-Ideal.
Germanischer, eiserner Elater im Schaft; Adel in der Fahne; offensivliebende
Zärtlichkeit in der Rose; aus der Richtung fletscht Philistertod und
unbezahltes Konto. Durchaus mehr Kraft als Besonnenheit.
2
Hier überall mehr Besonnenheit
als Kraft. Ängstlich gerade, nichts Hohes, Aufbrausendes, weder Newton noch
Rüttgerodt [Fußnote] , süßes Stutzerpeitschgen, nicht zur Zucht, sondern zur Zierde,
und zartes Marzipanherz ohne Feuer-Puls. Ein Liedchen sein höchster Flug, ein
Küßchen sein ganzer Wunsch.
3
Eingezwängter Fülldrang. Eine
Pulvertonne unter einem Feuerbecken vergessen. Wanns auffliegt, füllts die
Welt. Edler vortrefflicher Schwanz, englisch in beiderlei Verstand. Schade, daß
du von sterblichem Nacken herabstarrst. Flögst du durch die Himmel, die Kometen
würden sprechen: welcher unter uns will es mit ihm aufnehmen. Studiert Medizin.
4
Satyrmäßig verdrehte
Merrettigform. Der Kahlköpfigkeit letzter Tribut, an Schwanzheit bezahlt. Alte
Feldmarschallskraft, zu Fähndrichs-Natur aufpomadet, aufgekämmt und
aufaffektiert. Kampf zwischen Natur und Kunst, wo beide auf dem Platz bleiben.
Strecke du das Gewehr armer Teufel, und laß die Perücke einmarschieren.
5
An Schneidergesellheit und Lade
grenzende schöne Literatur. In dem scharfen Winkel, wo das Haar den Bindfaden
verläßt, wo nicht Goethe, doch gewiß Bethge [Fußnote] hoher Federzug mit Nadelstich. Polemik in der horizontalen
Richtung, Freitisch in der Quaste. In der fast zu dünne gezeichneten
Wurzel-Winzigkeit mit Hände reibender Pussillanimität. Informiert auf dem
Klavier.
6
Sicherlich entweder junger Kater
oder junger Tiger mit einem Haar-Übergewicht zum letztern.
7
Abscheulich. Ein wahrhaftes Pfui!
Wie kannst du an einem Kopf gesessen haben, den Musen geheiligt. Im trunkenen
Streit mußt du vielleicht einmal irgend einem Badergesellen oder
Stadtmusikanten entrissen und aus Triumph an Purschenhaar geknüpft sein.
Elendes Werk, nicht der Natur, sondern des Seilwinders. Hanf bist du, und als
Hanf hättest du dich besser geschickt, den Hals deines geschmacklosen Besitzers
an irgend einem Galgen zu schnüren.
8
Heil dir und ewiger Sonnenschein,
glückseliges Haupt das dich trägt. Stünde Lohn bei Verdienst, so müßtest du
Kopf sein, vortrefflicher Zopf, und du zopfbeglückter Kopf. Welche Güte in den
seidenen zarten Abhang, wirkend ohne Hanf herbergendes maskierendes Band, und
doch Wonne lächelnd wie geflochtene Sonnenstrahlen.
So weit über selbstgekrönte
Haarbeutel als Heiligenglorie über Nachtmütze.
Sechs solcher Schwänze in einer
Stadt, und ich wollte barfuß deine Tore suchen, du Gesegnete, die Schwelle
deines Rathauses küssen und mich glücklich preisen, mit meinem eignen Blut
unter die Zahl deiner letzten Beisassen eingezeichnet zu werden.
Fragen zur weitern Übung
Welcher ist der kraftvolleste?
Welcher hat am meisten Tatstarrendes?
Welcher Schwanz wird schwänzen?
Welcher ist der Jurist? der
Mediziner? der Theologe? der Weltweise? der Taugenichts? der Taugewas?
Welcher ist der verliebteste?
Welcher alterniert mit dem
Haarbeutel?
Welcher hat den Freitisch?
Welchen könnte Goethe getragen
haben?
Welchen würde Homer wählen, wenn
er wiederkäme?
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